Paris und Berlin an einem Tag zu besichtigen, ist in Europa so gut wie unmöglich. Im Südwesten Ontarios ginge es zwar, aber ratsam ist es auch dort nicht. Lieber sollte man sich Zeit nehmen, um die Region rund um den Grand River ausgiebig zu erkunden.
Bis nach Toronto ist es mit dem Auto gerade einmal eine Stunde. Doch für Jamie Kent fühlt sich die Fahrt in den Südwesten Ontarios jedes Mal wieder wie ein Ausflug in eine andere Welt an. Der 58-Jährige organisiert Kanu- und Fahrradtouren in der Region und ist manchmal selbst erstaunt über so viel Einsamkeit im Herzen der Provinz. „Manchmal treffe ich auf meinen Touren stundenlang nicht einen Menschen", sagt er. Den Nith River, der in der Nähe der Kleinstadt Wellesley entspringt und in Paris in den Grand River mündet, bezeichnet Kent sogar als das bestgehütete Geheimnis weit und breit. „Sogar viele Einheimische wissen nicht, dass er existiert."
Zwei ganze Tage dauert es, den Nith River von der Quelle bis zur Mündung zu erfahren. Der Fluss windet sich durch die Landschaft, oft kann man nur bis zur nächsten Kurve schauen. Am Ufer tauchen immer wieder die Überreste der menschlichen Zivilisation auf: alte Staudämme, verfallene Brücken, verlassene Dörfer. „Es ist wie eine Reise in eine andere Zeit", meint Kent. Einst besiedelten Indianer die Gegend zwischen Kitchener, Brantford und Woodstock, doch nach zahlreichen Kriegen war die Region fast völlig entvölkert. Und weil dort niemand mehr lebte, gab es für die weißen Siedler auch keinen Anreiz, die Gegend zu erkunden, weil kein Handel zu treiben war. „Es war eine der letzten Regionen im Süden Ontarios, die besiedelt wurde", erzählt Kent. Später hielt das Hochwasser die Menschen von den Flüssen fern, schließlich die Naturschutzbehörde. So konnte die einzigartige Tier- und Pflanzenwelt bis heute bewahrt werden. 80 Prozent aller gefährdeten Tierarten in Kanada sind entlang des Nith River zu Hause. Weißkopfseeadler, Falken und Blaureiher können ebenso beobachtet werden wie Dachse, Stachelschweine, Weißwedelhirsche und Kojoten, dazu 85 verschiedene Fischarten. Im Sommer fließt der Nith River recht ruhig dahin, doch im Frühjahr und Herbst kann es in einigen Abschnitten wild werden, mit Stromschnellen bis zur dritten Kategorie. Vor allem die Passage zwischen Canning und Paris kann dann ein feuchtfröhliches Vergnügen werden. In Canning, so besagt es die Legende, soll sich Ende des 19. Jahrhunderts übrigens der berühmte Wild-West-Bandit Jesse James einige Zeit lang vor der Polizei versteckt haben. Belegt ist das jedoch nicht. Dagegen ist die zweite Lokalprominenz definitiv in Canning gewesen: Wayne Gretzky, der bekannteste Eishockeyspieler aller Zeiten und bis heute ein kanadisches Idol, lief auf dem gefrorenen Nith River Schlittschuh, wenn er bei seinem Großvater Tony zu Besuch war.
Erfinder des Telefons lebte in Brantford
Aufgewachsen ist Gretzky jedoch in Brantford, ein paar Kilometer weiter südöstlich. Heute trägt die örtliche Arena den Namen des berühmtesten Sohnes der Stadt und sein Denkmal vor der Halle dürfte im eishockeyverrückten Kanada die wohl meistfotografierte Sehenswürdigkeit Brantfords sein. Dabei ist Gretzky nicht die einzige Berühmtheit des Ortes. Lawren Harris stammt ebenfalls von dort, einer der Landschaftsmaler der „Group of Seven", die Anfang des 20. Jahrhunderts als erste einen typischen kanadischen Malereistil entwickelte. Und auch Alexander Graham Bell, der Erfinder des Telefons, lebte in Brantford und entwickelte auf dem Grundstück der Eltern jene Technologie, welche die Welt verändern sollte. Ein Besuch in der Bell Homestead National Historic Site entführt die Besucher zurück in die Anfänge des Telefonzeitalters.
Was viele nicht wissen: Alexander Graham Bell interessierte sich nicht nur für Telekommunikation und Sprache. Er war auch ein großer Bewunderer der indianischen Kultur. Er besuchte das nahe gelegene Six Nations-Reservat, lernte die Sprache der Mohawk-Indianer und übersetzte sie in ein phonetisches Alphabet. Für seine Verdienste ernannten ihn die Mohawks zum Ehrenoberhaupt. Zur Verleihung trug Bell Federkopfschmuck und tanzte mit Mitgliedern des Stammes traditionelle indianische Tänze. Das Reservat gibt es heute noch, es ist sogar das größte in ganz Kanada. Und es ist das einzige in Nordamerika, in dem alle sechs Stämme der Irokesen – Mohawk, Cayuga, Onondaga, Oneida, Seneca und Tuscarora – friedlich zusammenleben.
Es ist zugleich ein idealer Ort, um die faszinierende Kultur der nordamerikanischen Ureinwohner einmal näher kennenzulernen. Im Juli und August kommen dort Tausende zum Powwow zusammen, um gemeinsam zu tanzen, zu singen und die indianische Kultur zu ehren. Bei verschiedenen Touren kann man die wechselhafte Geschichte des Ortes erfahren oder sich selbst einmal beim Kanufahren, Bogenschießen oder Lacrosse versuchen. Kanadas Nationalsportart wurde von den Irokesen erfunden, die bis heute sogar ein eigenes Team bei den Weltmeisterschaften stellen. Im Kanata Village ist ein historisches Indianerdorf aus der Zeit vor der Ankunft der Europäer zu besichtigen und mit der Royal Chapel of the Mohawks eines der ältesten Gebäude in ganz Kanada. Die bunten Kirchenfenster erzählen die Geschichte der ersten Begegnung zwischen Indianern und Weißen. Auch in der Chiefswood National Historic Site lässt sich eindrucksvoll erfahren, wie sich beide Kulturen miteinander arrangierten. Das Geburtshaus von Dichterin Pauline Johnson hat zwei Eingangstüren: eine in Richtung Straße für die Engländer, die mit der Kutsche aus Brantford anreisten, und eine in Richtung Fluss für die mit dem Kanu kommenden Mohawks.
Nur ein paar Minuten nördlich von Brantford liegt Paris, laut einem kanadischen Magazin die schönste Kleinstadt des Landes. Die hübsche Kopfsteinpflasterarchitektur am Zusammenfluss von Nith River und Grand River bietet tatsächlich ein schönes Fotomotiv. In Paris hat auch Jamie Kent seinen Laden „Grand Experiences", von wo aus er seine Kanu- und Fahrradtouren anbietet. Kent ist mit dem Grand River aufgewachsen, im April ist ein Buch von ihm erschienen, das er über den Fluss geschrieben hat. Was ihn neben der Landschaft immer wieder besonders beeindruckt, ist die Vielzahl der verschiedenen Kulturen, denen man entlang des Grand Rivers begegnen kann.
Weiter flussaufwärts folgt eine weitere Stadt, die früher ebenfalls den Namen einer europäischen Großstadt trug: Berlin. Im Ersten Weltkrieg, als sich Kanada und Deutschland im Kriegszustand befanden, wurde die Stadt zwar umbenannt und heißt seitdem Kitchener. Doch auch heute noch befindet sich dort das Zentrum der deutschen Kultur in Kanada. Es gibt gleich mehrere deutsche Kultureinrichtungen wie den „Schwaben Club" oder das „Hubertushaus", zur Adventszeit einen Christkindlmarkt und jedes Jahr im Oktober das zweitgrößte Oktoberfest der Welt mit rund 700.000 Besuchern und Bier, Bratwurst und Sauerkraut im Überfluss. Allein zur großen Oktoberfest-Parade an Thanksgiving säumen 150.000 Menschen die Straßen. 2018 feiert das Festival sein 50-jähriges Bestehen. Dann wird Kitchener wieder für neun Tage zum Epizentrum deutscher Gemütlichkeit. Und in der ganzen Stadt grüßt Onkel Hans von den Plakaten, das Maskottchen des Festivals: ein rundlicher Kerl mit Rauschebart, Lederhosen und Filzhut.
Kitchener ist die größte Stadt im Land zwischen den Großen Seen. Rechnet man die benachbarten Städte Waterloo und Cambridge noch dazu, mit denen Kitchener eng verwoben ist, dann leben dort knapp 525.000 Menschen, was die Dreierstadt zum zehntgrößten urbanen Zentrum des Landes macht. Mehrere Universitäten und ein breites Kultur- und Freizeitangebot machen Kitchener zu einem äußerst lebenswerten Ort. Wegen der hohen Konzentration an Technologiefirmen wie Blackberry hat die Stadt den Beinamen „Silicon Valley von Kanada" bekommen.
Der Kontrast zu den Dörfern nördlich der Stadt könnte daher nicht größer sein. Dort leben die Mennoniten in einem Land vor unserer Zeit. Auf den Straßen rund um St. Jacobs mit seinem berühmten Bauernmarkt kann es passieren, dass man auf einmal von einer Pferdedroschke ausgebremst wird. Drei besitzt jede Familie: eine robuste für den Alltag, eine feine für den Sonntag und eine für Ausfahrten bei schlechtem Wetter. Auch die Kleidung der Mennoniten unterscheidet sich – Männer tragen schlichte schwarze Anzüge, die Frauen altmodische Kleider und blaue Hauben. Viele lehnen technische Errungenschaften wie Autos, Telefone und Elektrizität ab.
Traditionelle Ernte von Ahornsaft aus Bäumen
Wer mehr über die Traditionen dieser Glaubensgemeinschaft erfahren will, die im 16. Jahrhundert von Menno Simons, einem norddeutschen Führer der Wiedertäuferbewegung, gegründet wurde, kann zum Beispiel das Besucherzentrum „Mennonite Story" in St. Jacobs besuchen. Oder er schließt sich einer der Kutschfahrten an, die Nathan Kuepfer mit seiner Firma „St. Jacobs Horse Drawn Tours" in der Region veranstaltet. Kuepfer ist selbst Mennonit, bezeichnet sich aber als fortschrittlich und liberal. „Es gibt die falsche Vorstellung, dass sich die Mennoniten gegenüber der modernen Welt völlig abkapseln", sagt er. Das Gegenteil sei der Fall. Viele Mennoniten würden Besuchern bereitwillig ihren Lebensstil vermitteln. Zudem sei es eine irrige Annahme, dass sie jede Form von Modernität ablehnen würden: „Es gibt viele Mennoniten, die mit modernsten Methoden Landwirtschaft betreiben. Sie leben in der heutigen Welt und machen dort auch ihre Geschäfte, deshalb kommen sie gar nicht umhin, konkurrenzfähig zu bleiben. Gleichzeitig messen sie alle neuen Technologien stets daran, inwiefern diese ihren Lebensstil beeinflussen könnten und ihren sozialen Umgang miteinander möglicherweise verändern." In einer zunehmend technisierten Welt hat eine solche Herangehensweise offenbar auch für viele Nicht-Mennoniten ihren Reiz. „Viele würden die Zeit einfach mal für ein paar Stunden zurückdrehen", sagt Nathan Kuepfer. Die Fahrt mit der Pferdekutsche zu den Farmen der Mennoniten sei deshalb seine mit Abstand beliebteste Tour. Nur im Frühjahr, von März bis Mitte April, wenn der Ahornsaft geerntet wird, macht ihr ein anderer Ausflug Konkurrenz. Dann führt Kuepfer seine Gäste in das Reich der süßen Bäume und zeigt ihnen die traditionelle Art der Ahornsaftgewinnung. Erst wenn die Tage bereits warm und sonnig werden, die Nächte aber nach wie vor frostig sind, beginnen die Ahornbäume ihre Nährstoffe in Form von Pflanzensaft aus den Wurzeln in die Knospen zu transportieren. „Das ist der perfekte Zeitpunkt für die Ernte", sagt Kuepfer. Der gesammelte Pflanzensaft wird traditionell durch Kochen über einem Holzfeuer eingedickt, bis der Zucker karamellisiert und dem Sirup so sein charakteristisches Aroma gibt.
Für einen einzigen Liter Ahornsirup werden etwa 30 bis 50 Liter Saft benötigt, die ein einzelner Baum in etwa zwei Wochen hervorbringen kann. Ontarios Ahornbäume erzeugen dabei nur etwa zehn Prozent dessen, was in Quebec produziert wird. Doch in ihrer Liebe zum Ahornsirup stehen die Menschen dort denen des französischsprachigen Teils des Landes in nichts nach. „Es heißt ja, dass den Kanadiern Ahornsirup statt Blut durch die Adern fließt", sagt Kuepfer. In zahlreichen Orten im Südwesten Ontarios werden im Frühjahr Festivals veranstaltet, um diese süße Leidenschaft zu feiern, das bekannteste ist das in Elmira. Dieses Fest lässt sich auch Kuepfer nicht entgehen. „Es gibt doch nichts Schöneres als einen Pfannkuchen mit einem ordentlichen Schuss Ahornsirup."