Kiss zählen mit mehr als 100 Millionen verkauften Tonträgern zu den erfolgreichsten Bands überhaupt. Dieses Jahr geht die Gruppe zum letzten Mal auf Tour. Frontmann Paul Stanley (66) erzählt im Interview, warum er nach 45 Jahren keine Lust mehr auf Schminke und Plateausohlen hat und was ihn als Jude mit Deutschland verbindet.
Herr Stanley, die Abschiedstournee von Kiss steht unter dem Motto: „The One Last Kiss: End of the Road World Tour". Fällt es Ihnen leicht, Goodbye zu sagen?
Ich denke, ja. Ich möchte aber nicht so weit gehen und es als Befreiungsschlag bezeichnen. Es war natürlich eine große Entscheidung zu sagen, dass wir ein letztes Mal auf Welttour gehen wollen mit allen Hits und weiteren Songs, die wir in unserer Karriere gemacht haben. Wir möchten uns bei unseren Fans bedanken mit der fettesten Show überhaupt. Die Alternative wäre gewesen, ganz normal weiterzumachen und langsam dahinzuschwinden. Kiss ist aber keine Band, die einfach verrauscht, sondern wir wollen uns mit der explosivsten Show aller Zeiten verabschieden, damit wir so in Erinnerung bleiben, wie wir immer waren.
Was genau meinen Sie mit der größten Show aller Zeiten?
Es ist eine komplett neue Show. Sie hat nichts mit den Bühnen aus der Vergangenheit zu tun. Sie ist bombastisch. Es gibt noch mehr von allem. Wir werden auch länger spielen als sonst – ein großer Unterschied zu den Tourneen in den letzten Jahren.
Bei Kiss gab es sogar schon fliegende Untertassen auf der Bühne. Lässt sich der Gigantismus von Kiss überhaupt noch steigern?
Das glaube ich schon. Denn bei dieser Tour geht es nicht nur um eine bestaunenswerte Bühne, um Technik und die Songs, sondern vor allem um die Atmosphäre, die Umstände und die Feier eines Klassikers.
Haben Sie vor, sich ganz von der Musik zurückzuziehen und nur noch zu malen oder designen?
Ich will alles machen! Für mich gibt es viele Möglichkeiten, kreativ zu sein. Ich will auf jeden Fall weitermachen. Musik ist mir natürlich sehr wichtig, aber die Kunst nimmt auch einen großen Teil meines Lebens ein. Ich designe gerne Kleidung, meine beiden Schuhmodelle für Puma haben sich weltweit sehr gut verkauft. Davon wird es auf jeden Fall mehr geben. Ich habe nicht vor, von der Bildfläche zu verschwinden.
Werden Sie anschließend noch gelegentlich in Ihrer Heimatstadt Los Angeles spielen?
Nein! Nach dieser Welttour wird es keine weiteren Tourneen geben.
Wird es von Kiss weitere Alben geben?
Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Ich habe in meinem Leben ein paar ganz gute Songs geschrieben, selbst auf jüngeren Alben wie „Sonic Boom" und „Monster" sind Stücke drauf, die mit unseren besten Sachen mithalten können. Der Unterschied ist, dass viele Menschen mit den neueren Platten nicht so viele Erinnerungen verbinden wie zum Beispiel mit „Alive!". Songs werden zu Klassikern, weil die Menschen mit ihnen persönliche Erlebnisse verbinden. Das funktioniert aber nicht von heute auf morgen. Die Leute freuen sich immer über neue Songs von den Rolling Stones, aber bei ihren Konzerten wollen alle nur „Brown Sugar" hören.
Kennen Sie „I Was Made For Lovin‘ You" in der Version der deutschen Technoband Scooter?
Ja. Es kommt immer wieder vor, dass meine Songs gecovert werden. Das gefällt mir grundsätzlich. Egal ob ein Cover gut oder schlecht geworden ist.
Ein deutscher Schlager behauptet, das Leben fange mit 66 Jahren erst an. Wie fühlen Sie sich als Mann in diesem Alter?
Manchmal glaube ich, den Verstand zu verlieren, weil ich mich immer noch wie 26 fühle. Wenn das Leben wirklich erst mit 66 beginnt, dann habe ich noch einen langen Weg vor mir.
Wann ist man zu alt für Rock’n’Roll?
Jeder Mensch hat das Recht, das weiterzuverfolgen, was ihm Freude bereitet. Das kann einem niemand verbieten. Jeder muss für sich selbst entscheiden, wie lange er etwas macht. Manchmal sagen Leute über Künstler oder Sportler: „Ich habe ihn noch erlebt, als er wirklich groß war. Ich wünschte, er würde aufhören, weil ich ihn so nicht in Erinnerung behalten möchte." Aber man muss da ja nicht hingehen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Kiss sich verabschieden. Meinen Sie es diesmal wirklich ernst?
Die Umstände sind diesmal ganz anders. Dass wir vor 19 Jahren beschlossen, auf Abschiedstournee zu gehen, hatte etwas mit der damaligen Bandbesetzung zu tun. Es war kein Abschied von der gesamten Band, sondern nur von ein paar Mitgliedern. 19 Jahre später können wir mit Fug und Recht behaupten, nie mehr Spaß gehabt zu haben als heute. Aber man soll ja immer dann aufhören, wenn es einem am meisten Spaß macht.
Werden die Originalmitglieder Ace Frehley und Peter Criss Sie bei der Tour unterstützen?
Für mich ist diese Tour eine Feier von allem, was Kiss war, ist und sein wird. Wichtige Teammitglieder dieser Reise zu ignorieren, fände ich komisch und ein bisschen blind. Ich hoffe, dass es auf unserer Tour Gastauftritte von ehemaligen Bandmitgliedern geben wird. Denn sie sind Teil unserer Geschichte. Ich glaube aber nicht, dass ein Gast die ganze Zeit mit uns auf Tour sein wird. Ich kann nur wiederholen, dass diese Show die Leute wegblasen wird. Fetter und besser geht es einfach nicht!
Kiss ist heute einer der bekanntesten Markennamen der Welt. Haben Sie noch Visionen für die Marke Kiss?
Natürlich. Kiss ist mehr als nur eine Liveband. Kiss ist eine Lebenseinstellung. Die Vorstellung, dass nach uns niemand mehr ein Kiss-T-Shirt tragen wird, wäre naiv. All das geht ja weiter.
Sie verkaufen sogar Kiss-Särge.
Es gibt sie, ja, aber wir zwingen niemand, sich da hineinzulegen. Ich sage aber auch: Warum sollte es diese Dinge nicht geben?
Möchten Sie in einem Kiss-Sarg bestattet werden?
Ich plane meinen Tod nicht!
Für viele Ihrer Fans sind Sie mehr als ein Idol: nämlich ein Rock-Gott. Wie fühlt sich das an?
Wenn ich jemanden inspiriere oder für ihn ein Idol bin, dann finde ich das okay. Ich bin aber kein Prediger, der auf einem Sockel oder Altar steht und Leuten sagt, was sie tun oder lassen sollen. Mir hören Leute zu, weil ich nicht viel anders bin als sie selbst. Vielleicht habe ich in meinem Leben ein paar weise Entscheidungen getroffen und habe ein tolles Leben, aber ich sage niemandem, wie man das erreichen kann. Meine letzte Rolle ist, Menschen zu sagen, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur hart genug arbeiten. Ich bin eher hier, um Stimmung zu machen und Menschen anzuschubsen.
Sie leben den amerikanischen Traum. Was ist vom „American Dream" geblieben?
Alles! Trotz des Aufruhrs, der in meinem Land zurzeit herrscht und in der Vergangenheit des Öfteren geherrscht hat, gibt es diesen Traum noch. Das Leben hier kann sein wie eine Fahrt auf der Achterbahn, aber es geht sehr oft gut aus.
Was würden Sie als erstes tun, wenn Sie Präsident der Vereinigten Staaten wären?
Zurücktreten!
Warum?
Weil es ganz wichtig ist zu wissen, zu was man persönlich fähig ist und zu was nicht. Wir müssen unsere Stärken und Schwächen kennen. Ich wünschte, mehr Menschen könnten ihre Fähigkeiten besser beurteilen.
Ihre Mutter wurde in Berlin geboren, Ihr Vater in Polen. Viele Ihrer jüdischen Vorfahren wurden von den Nazis ermordet. Mit welchen Gefühlen sind Sie anfangs nach Deutschland gekommen?
Viele Freunde meiner Eltern hatten eintätowierte Nummern auf dem Unterarm. So brutal tätowierte die SS KZ-Häftlinge. Meine Mutter ist mit ihren Eltern aus Berlin nach Amsterdam geflohen, sie konnten damals nur ihr nacktes Leben retten. Aber sie mussten auch aus Amsterdam fliehen. Mein Verhältnis zu Deutschland war geprägt von Geschichtsbüchern und anfangs ganz sicher nicht positiv. Mit der Zeit musste ich aber die Erfahrung machen, dass es in Deutschland eine neue Generation gibt. Die Dinge haben sich von Grund auf geändert. Dadurch konnten die Gräueltaten der Nazis zwar nicht ausradiert werden, aber ich finde, dass man Menschen an ihren eigenen Handlungen beurteilen sollte und nicht an denen ihrer Eltern. Mein Verhältnis zum heutigen Deutschland ist fabelhaft. Die Leute, mit denen ich zu tun habe, sind großartig.