Dirk Nowitzki verlässt als einer der Größten die NBA-Bühne. Nicht nur die Basketball-Szene verneigt sich vor einem Spieler, der gerade wegen seines Charakters unvergessen bleibt.
Plötzlich wankte der Riese bedenklich. Er tippelte von einem Bein auf das andere, so als suche er verzweifelt nach Halt. Er rieb sich mit den Fingern die feuchten Augen, er wischte sie mit dem Ärmel trocken – es half alles nicht. Die Tränen suchten sich ihren Weg. „Die Nummer 41!", schrie der Hallensprecher der San Antonio Spurs ehrfurchtsvoll in sein Mikrofon. „Dirk Nowitzki!" Wobei er wie alle Amerikaner den Vornamen „Dööörk" aussprach. Die Zuschauer erhoben sich applaudierend von ihren Plätzen – und Nowitzki kämpfte mit seinen Emotionen.
Der deutsche Basketballstar nahm die Huldigungen fast verschämt entgegen, er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. In dem Augenblick schien es, als sei er dankbar, dass die ganzen Abschiedsgesten nun endlich ein Ende gefunden hatten. Sein allerletztes Spiel in der nordamerikanischen Profiliga NBA nach 21 Jahren hat Nowitzki mit den Dallas Mavericks in San Antonio zwar 94:105 verloren, doch die Herzen der Basketballfans hat „Big D" gewonnen. Nicht erst an diesem Abend, nicht erst beim emotionalen Abschied von den Dallas-Fans einen Tag zuvor.
Nowitzki hat sich die riesengroße Welle an Sympathie, die ihm bei seinem Abschied weltweit entgegenschlug, nicht nur durch seine Leistungen auf dem Parkett erarbeitet. Es war vielmehr seine authentische Freundlichkeit, sein ungeschminkter Respekt, mit dem er jedem Menschen begegnet. Ob Mitspieler, Gegner, Fan oder Journalist. Und es war seine fast kindliche Freude am Basketballspielen, die er sich über zwei Jahrzehnte bewahren konnte.
„Einfach mal ein Eis oder eine Pizza zum Frühstück essen"
Nicht wenige Menschen behaupten, Dirk Nowitzki hätte mit seinem Schaffen und seinem Auftreten in den USA mehr für die deutsch-amerikanische Freundschaft getan als so mancher Politiker. Drei ehemalige US-Präsidenten nutzten zumindest die Gelegenheit, das „German Wunderkind", wie Nowitzki in seinen ersten NBA-Jahren genannt wurde, persönlich zu einer herausragenden Karriere zu gratulieren. „Du verdienst unseren Dank als unglaublicher internationaler Botschafter dieses Sports und als Mensch von Weltklasse", schrieb Bill Clinton auf Twitter. Auch Barack Obama würdigte Nowitzki und dessen NBA-Kollegen Dwayne Wade, der seine Karriere zeitgleich beendete, nicht nur als „die Größten aller Zeiten, sie haben auch Klasse". Und George W. Bush wünschte sich gar einen privaten Besuch des gebürtigen Würzburgers: „Wenn Dir langweilig ist, komm vorbei."
Wenn Nowitzki all die Einladungen annimmt, die er in den letzten Tagen erhalten hat, dürfte ihm auch als Basketball-Rentner nie langweilig werden. Doch der 40-Jährige freute sich im Moment des Abschieds von dem Sport, dem er seit Kindestagen an mit so viel Disziplin alles untergeordnet hatte, auf die süßen Sünden des Alltags. Er wolle jetzt „einfach mal ein Eis zum Frühstück, eine Pizza zum Frühstück essen", sagte Nowitzki mit leuchtenden Augen, „sich einfach mal gehen lassen". Und so stellt er sich schon jetzt auf ein gewichtiges Problem auf der Waage ein: „Mal schauen, ob ich die 150 Kilo schaffe in den nächsten paar Monaten."
Und dann? Er habe nun viel mehr Zeit für seine drei Kinder Malaika (5), Max (4) und Morris (2), „leider habe ich viel von den Kids verpasst". Er könne auch endlich Dinge wie das Skifahren machen, die ihm immer verboten wurden. „Vielleicht fange ich das Golfen an, vielleicht spiele ich ein bisschen Tennis." Ein Comeback auf dem Parkett wird es aber definitiv nicht geben, das berühmte Trikot mit der 41 wird Nowitzki höchstens noch in der Freizeit überziehen.
Sein 2,13 Meter langer Körper ist von 1.667 NBA-Spielen geschunden, „es gab viele Behandlungen, Pillen, Spritzen", verriet Nowitzki. Sein Herz hatte „Ja" zu einem 22. Jahr in der NBA gesagt, sein Körper eindeutig „Nein". „Es macht keinen Sinn, das noch ein Jahr durchzuziehen", sagte er. „Es ist Zeit." Und doch weiß er, dass Wehmut aufkommen wird. Im Herbst, wenn die neue NBA-Saison beginnt. „Das wird beißen", sagte Nowitzki über den Abschiedsschmerz. „Es ist klar, dass ich es vermissen werde. Für ein paar Monate, wahrscheinlich für ein paar Jahre. Oder für immer. Keine Ahnung."
„Es wird niemand mehr so sein wie du"
Vielleicht findet Nowitzki im geplanten Urlaub in der Karibik ein wenig Abstand. Vielleicht wird ihm auch erst dann bewusst, was für Meilensteine er in der NBA gesetzt, welch riesige Fußstapfen er vor allem in Dallas hinterlassen hat. Insgesamt 31.560 Punkte hat er als Power Forward und Center in der Hauptrunde erzielt, damit ist er die Nummer sechs der ewigen Scorerliste. Er holte in all seinen Hauptrundenspielen 11.489 Rebounds und verwandelte 7.240 von 8.239 Freiwürfen (87,9 Prozent). Und 2011 gelang ihm der ganz große Wurf, als er die Mavericks zum Meistertitel führte. Vier Jahre zuvor wurde Nowitzki zum wertvollsten Spieler der Saison (MVP) gekürt – als erster Europäer überhaupt. Ganze 14-mal wurde er ins NBA-Allstar-Team gewählt.
All diese Zahlen und Fakten sind beeindruckend, und dennoch sind es andere Sachen, die Nowitzkis Status als Superstar in Amerika ausmachen. Seine größte Leistung ist wahrscheinlich die, dass er niemals abgehoben ist. Dass er sich niemals wichtiger genommen hat als das Spiel selbst. „Dirk ist der netteste Mensch der Welt", meinte zum Beispiel Charles Barkley. Er hatte sich genau wie andere Basketball-Ikonen wie Larry Bird, Scottie Pippen, Shawn Kemp und Detlef Schrempf bei Nowitzkis letztem Heimspiel gegen die Phoenix Suns eingefunden.
„Unglaublich, dass meine Helden hergekommen sind", sagte Nowitzki. „Ich liebe Euch, Jungs. Das bedeutet mir mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt." Lediglich Michael Jordan habe er vermisst: „Er war meine Nummer eins." Welch Ironie, dass Nowitzki in seinem letzten Heimspiel für Dallas ausgerechnet „Air" Jordan als ältesten 30-Punkte-Profi in einem NBA-Spiel ablöste.
Doch auch ohne sein großes Idol wurde der Abschied in Dallas vor 19.200 Fans zu einem emotionalen Ereignis, das Nowitzki wohl nie vergessen wird. Seine Ansprache allein im Kreis des Scheinwerferlichts rührte auch Mark Cuban zu Tränen. „Ich verspreche: Wir werden Dir die größte, krasseste Statue der Welt bauen und sie vor die Arena stellen", sagte der Mavericks-Boss. „Es wird niemand mehr so sein wie Du."
Cuban weiß, was er und der Club Nowitzki zu verdanken haben. Keiner hatte damals ahnen können, dass der dünne Schlaks mit dem braven Mittelscheitel und dem Ring im Ohr, der im Alter von 20 Jahren den Sprung von Würzburg in die NBA wagte, die notorisch erfolglosen Dallas Mavericks einmal zu einem Meistertitel führen könnte. Nowitzki aber machte seine physischen Nachteile gegen die „starken Jungs" unter dem Korb mit Raffinesse weg, und er arbeitete mit seinem Privattrainer Holger Geschwindner immer wieder an den Basics. So wie ein Anfänger. Nur deshalb sah sein vom Korb abgewandter einbeiniger Sprungwurf, der „One Legged Fadeaway", so spielerisch einfach aus.
„Einzigartiger Botschafter"
Nowitzki flatterten immer wieder sehr lukrative Angebote anderer Teams ins Haus, aber er blieb Dallas treu. Mehr noch: Er verzichtete sogar auf Gehalt, damit die Mannschaft verstärkt werden konnte. Auch deshalb wurden die Mavericks 2011 mit einem überragenden Nowitzki Meister.
Diese Vereinstreue, diese Bescheidenheit und Selbstlosigkeit ist ungewöhnlich für die USA, umso mehr wurde Nowitzki in seiner Wahlheimat dafür geachtet. Die deutsche Tennisspielerin Andrea Petkovic schrieb in einem Beitrag für die FAZ, dass sie im Smalltalk mit Amerikanern dank Nowitzki nicht mehr als erstes auf Adolf Hitler angesprochen werde, sondern auf „den einzigen Mann in den Vereinigten Staaten von Amerika mit dem Namen Dirk, wie Dööörk ausgesprochen".
Auch das Auswärtige Amt nannte Nowitzki einen „einzigartigen Botschafter" Deutschlands und bedankte sich herzlich. Für Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), ist Nowitzki schlichtweg ein „Jahrhundertsportler". Er stehe auf einer Stufe mit deutschen Sportgrößen wie Michael Schumacher, Boris Becker, Max Schmeling oder Franz Beckenbauer. IOC-Boss Thomas Bach erinnerte an den „unvergessenen" Moment, als Nowitzki 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking die deutsche Mannschaft als Fahnenträger ins Stadion führte.
„Das war für mich eine der größten Ehren meines Lebens, das werde ich nie vergessen", sagte Nowitzki einmal rückblickend. „Mir war das fast ein bisschen peinlich. Ich habe erst mal gefragt, ob das für die ganzen anderen Sportler okay ist. Ich wollte da keinem anderen Athleten auf die Füße treten, der es mehr verdient hätte als ich."
Doch keiner hatte es damals mehr verdient als Nowitzki, der Multi-Millionär, der wie alle anderen Sportler auch im Athletendorf wohnte und fast jeden der vielen Autogrammwünsche lächelnd erfüllte. „Wie viel Du gibst und wie wenig Du im Gegenzug verlangst, ist vielleicht Dein größtes Erbe", sagte Dallas-Trainer Rick Carlisle. So ähnlich äußerten sich alle Weggefährten nach dem Abschied eines ganz Großen.