Eine Tracht ist mehr als ein Kleidungsstück oder gar ein Kostüm. Vielmehr drückt sie eine enge Verbundenheit mit einer bestimmten Region und den Menschen dort aus und sorgt für ein Gefühl der Geborgenheit. Mit dem Folklorismus des Oktoberfestes hat all das nicht viel gemein.
Auf der Bühne tanzt eine Gruppe Jugendlicher in Trachten. Laut klingt die Musik aus den Boxen, doch es ertönt nicht etwa Volksmusik, wie man vielleicht vermuten würde, sondern stattdessen ein Chart-Hit von Lady Gaga. Von wegen konservativ oder altbacken! „Trachten können auch ziemlich cool sein", meint Jasmin Esemann, die Vorsitzende der Deutschen Trachtenjugend. Oder um es mit den Worten von Knut Kreuch zu sagen, dem Präsidenten des Deutschen Trachtenverbandes: „Eine Tracht ist wie ein Auto – sportlich und ganz schnell von null auf hundert. Man muss sie pflegen, ohne sie einzumotten; man muss mit ihr ausgehen, um anziehende Blicke zu ernten; man darf mit ihr Freunde einladen und kommt richtig in Fahrt. Die Tracht bringt voran in die Zukunft, wenn andere sich schon längst in den sozialen Netzwerken der Einsamkeit verlaufen haben."
Gefeiert wird die Vielfalt des Trachtenwesens
Bereits aus diesen Worten wird klar, dass eine Tracht viel mehr ist als bloß ein Kleidungsstück oder gar ein Kostüm. Tatsächlich ist eine Tracht ein höchst komplexes Thema. Seit im 15. Jahrhundert die ersten Volkstrachten aufkamen, lieferte die Kleidung dem kundigen Betrachter eine Vielzahl von Informationen: woher der Träger der Tracht stammte, seine soziale Stellung innerhalb der Gesellschaft, ob er ledig, verheiratet oder verwitwet war und sogar Hinweise auf dessen augenblickliche wirtschaftliche Verhältnisse. „Trachten sind die Farben einer Region", sagt der Thüringer Knut Kreuch. „Es ist die unverwechselbare Verbindung zu Heimat, Vaterland, zum Wohnort und zu den Menschen." Die ersten Trachtenvereine wurden 1875 in Chemnitz und Leipzig sowie ein Jahr später in Berlin gegründet, jeweils von bayerischen Exilanten, die ihre Heimat verlassen mussten, weil es dort keine Arbeit gab. Ihre Tracht nahmen sie mit – weit weg von zu Hause diente sie ihnen als Erkennungszeichen für Gleichgesinnte und sorgte damit auch für ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl. „Ein Denkmal kann man nicht mitnehmen, eine Tracht ist überall kleidsam und gibt ihren Träger als Bayern, als Thüringer oder als Holsteiner zu erkennen. Eine Tracht ist deshalb ein Stück Heimat zum Anziehen", sagt Kreuch.
Vielleicht auch deshalb ist das Trachtentum vielerorts eng mit dem Volkstanz verknüpft, der ja ebenfalls eine Tradition bewahren will. Bestes Beispiel ist das alle drei bis fünf Jahre ausgetragene Deutsche Trachtenfest, das größte Volksfest der Heimat- und Brauchpflege hierzulande, auf dem Tracht, Tanz, Musik und Sprache zusammenkommen. In diesem Jahr wird das Trachtenfest vom 17. bis 19. Mai in der Stadt Lübben im Spreewald (Brandenburg) ausgetragen und will dort erneut die Vielfalt des heimischen Trachtenwesens erlebbar machen.
Auch wenn die meisten beim Thema vermutlich zuallererst an den Süden denken: Trachten gibt es in jedem Bundesland. Auch im norddeutschen Raum kennt man prächtige Trachten wie beispielsweise die Bückeburger Tracht aus dem Weserbergland, bei der vor allem die ausladende Flügelhaube der Frauen ins Auge sticht, deren Flügel an einen Propeller erinnern. Nicht minder imposant ist die Schwälmer Tracht aus Nordhessen: sehr pompös, mit zig Unterröcken, die ausschließlich mit Nadeln festgesteckt werden, insgesamt weit über 300 Stück – zwei bis drei Stunden dauert es, ehe eine Trägerin dieser Tracht fertig angezogen ist.
Die meisten Trachten finden sich aber tatsächlich in Bayern und Baden-Württemberg, wo es rund 400 verschiedene Ausprägungen gibt. Eine der bekanntesten dürfte die sogenannte Miesbacher Tracht mit Dirndl und Lederhose sein, für viele Amerikaner und Asiaten so etwas wie der Inbegriff deutschen Kulturgutes, sowie der Bollenhut der Gutacher Tracht, der mittlerweile sogar zum Symbol des gesamten Schwarzwalds geworden ist, obwohl er in Wirklichkeit nur in drei Gemeinden getragen wurde. „Jede Region hat ihre eigene Tracht", erklärt Jasmin Esemann, die selbst aus der Nähe von Rostock aus Mecklenburg-Vorpommern stammt. Dort gab es deshalb im vergangenen Jahr auch große Aufregung um das sogenannte Küsten-Dirndl, mit dem der Tourismusverband eine moderne Trachtenmode für das ganze Land initiieren wollte – ungeachtet der regionalen Unterschiede. Gesucht wurde eine landestypische Berufskleidung für den Gaststätten- und Tourismusbereich, analog zu Dirndl und Lederhose im Süden. In der Jury saß neben der Bildungsministerin, dem Landesheimatverband und dem Geschäftsführer des Landestourismusverbandes auch Modedesignerin Jette Joop. „Was dabei herausgekommen ist, hat aber mit einer Tracht im klassischen Sinn nichts zu tun", sagt Jasmin Esemann, die den Siegerentwurf stattdessen verächtlich als „Stewardessen-Kostüm" bezeichnet. „Natürlich gibt es heutzutage auch moderne, alltagstauglichere Trachtenmode. Wenn man jedoch etwas komplett Neues entwirft, dann ist es keine Tracht mehr", sagt sie. Der Trachtenverband hatte den Wettbewerb daher boykottiert.
Bis heute gelten strikte Kleiderregeln
Bis heute gelten für Trachten strikte Kleiderregeln. So wird man Frauen ohne Kopfbedeckung ebenso wenig finden wie eine Männertracht ohne Jacke. Es ist also eine behutsame Modernisierung, wenn heutzutage leichtere Stoffe verwendet werden als noch vor 100 Jahren, weil es die alten zum Teil auch gar nicht mehr gibt. „Trachten entwickeln sich. Mit der Zeit hat sich das, was die Leute schick gefunden haben, immer wieder verändert", sagt Jasmin Esemann. Das betrifft jedoch weniger die Form, wenngleich die Taillierung heutzutage oft ebenfalls an das moderne Körpermaß angepasst werden muss. Verändert hat sich aber vor allem die Dekoration: die Art der Knöpfe sowie die Motive der Stickereien auf Schürze und Haube.
Eines aber ist gleich geblieben. „Wenn man eine Tracht trägt, hat man automatisch eine ganz andere Körperhaltung", meint Esemann. Man gehe gleich aufrechter, wohl weil beim Tragen einer Tracht auch immer eine gewisse Portion Stolz und Selbstbewusstsein mitschwingt. Die Außenwirkung sei deshalb eine ganz andere: so als ob man ein Cocktailkleid oder einen Anzug tragen würde. Auch heute noch werden Trachten altersübergreifend von Menschen aller Generationen getragen, selbst Babys zieht man sie gelegentlich zur Taufe an. Die Massen auf dem Münchener Oktoberfest oder ähnlichen Veranstaltungen im ganzen Bundesgebiet, die in Dirndl und Lederhose die Festzelte stürmen, haben mit dem traditionellen Trachtenwesen nur wenig gemein. Man spricht deshalb eher von Trachtenmode, die sich zwar in ihren Schnitten, Materialien, Stoffmustern und Accessoires an der Tracht anlehnt, ohne aber selbst Tracht sein zu wollen. Die Trachtenmode, manchmal auch Landhausmode genannt, orientiert sich stärker an Modetrends und moderner Alltagskleidung.
In der Szene sind die Meinungen dazu gespalten. „Ich persönlich habe nichts gegen das Tragen von Trachtenmode. Es ist ein erster Schritt, sich stärker mit dem Thema auseinanderzusetzen", sagt Knut Kreuch. Zumal es ja auch den Träger von Trachtenmode um Zugehörigkeit geht und darum, auf dem Oktoberfest bloß nicht negativ aufzufallen. Auch für Jasmin Esemann sind Dirndl und Lederhose ein erster Ansatzpunkt, um ins Gespräch zu kommen – mehr aber auch nicht. Ein Dirndl sei viel zu freizügig, wohingegen eine Tracht stets hochgeschlossen ist. Sie meint: „Ich kenne keine Trachtenträgerin, die freiwillig ein Dirndl anziehen würde."