Diese Musik braucht die Hitze und die Vielfalt der Metropolen: Spätestens seit der Wende ist die Avantgarde des Jazz in Berlin zu Hause. In Dutzenden Clubs wird improvisiert, ganz traditionell geswingt oder experimentiert. Neues entsteht, mit Einflüssen von überall her: von der türkischen, polnischen, amerikanischen und der afrikanischen Community.
„Jazz ist, wenn du spürst, dass die Musik eine Seele hat. Wenn dich der Rhythmus packt, diese merkwürdig verzögerten Takte, die einem in die Füße fahren. Kenner sprechen von der „totalen Musik", Jazzgrößen wie Miles Davis oder Charles Mingus von „Black Classical Music". Jede Definition bleibt unvollkommen, weil der Jazz so vieles vereint: Soul, Blues, Gospel, Funk. Und weil er aus der schwarzen Musik stammt, hat er seine ursprüngliche Funktion behalten: Es ist eine kommunikative Musik, eine Musik, die sich ständig wandelt, die mit dem Publikum atmet. Deswegen entsteht Jazz gerade in den Metropolen, in Chicago oder Paris, in London oder eben auch in Berlin immer wieder neu.
„It must swing", es muss swingen, fließen, sagten die Gründer des Jazz-Labels „Blue Note". Swing war von den 20er- bis zu den 40er-Jahren das, was heute Techno ist: Überall, wo getanzt wurde, spielte man den Swing. Auch später noch, als der Cool Jazz aufkam, blieb das so. Aber zugleich entwickelte sich der Jazz weiter, sog im Einwanderungsland USA Einflüsse aus allen möglichen Musikrichtungen auf. Er kam in Europa an, ließ sich inspirieren von französischen, italienischen Musikern, von Sinti und Roma, die den Gypsy Swing im Gepäck hatten; kehrte nach Afrika zurück und regte überall Komponisten an, sich mit ihren nationalen Traditionen zu beschäftigen und sie im Jazz neu zu entdecken. Er war Weltmusik, bevor es das Wort gab.
Manche sagen, Jazz ist nur echt, wenn er in verrauchten Kellerlokalen unter schlechter Beleuchtung mit Saxofon, Schlagzeug, Klavier und Bass gespielt wird – pur und unplugged. Andere möchten ihn am liebsten in die Konzertsäle verlegen. Wieder andere freuen sich, wenn beim Frühschoppen im Biergarten eine Dixie-Band spielt. Gutem Jazz ist es egal, wo er gespielt wird, er muss nur echt sein. Vor zwei Jahren wurden 100 Jahre Jazz gefeiert, angeblich hat alles mit einer Plattenaufnahme der „Original Dixieland Jass Band" in New York begonnen. Wir hier konzentrieren uns auf die vergangenen 60 Jahre in Berlin: Ein Moderator des ehemaligen Senders RIAS erinnert sich an die große Zeit, als alle Jazzgrößen nach West-Berlin kamen. Uschi Brüning, die Jazz-Lady aus dem Osten, erzählt aus ihrem Leben.
Wir stellen Musikerinnen vor, Berliner Jazz-Lokale, einen Trompeter, der in seiner Musik Einflüsse aus aller Welt verarbeitet, und haben mit der IG Jazz gesprochen, einer Interessenvertretung, der viele der nahezu 2.000 Jazzmusiker in Berlin angehören. Die meisten können von ihren Auftritten nicht leben, verdingen sich als Studiomusiker oder verdienen sich etwas dazu mit einer „Mucke" auf privaten Festen.
„Es ist eine gute Zeit für den Jazz", sagt Matthias Wegner, Jazz-Kenner vom Deutschlandfunk, gerade in Berlin. Es gebe neue Spielformen, vom Hip-Hop beeinflusste Richtungen und viele Lokale, Bars und Galerien, besonders in Kreuzberg und Neukölln, in denen Jazz neues Publikum findet. Vielleicht haben sich die Jungen an Pop und Techno, der Wiederkehr des ewig Gleichen, satt gehört. Jazz ist jeden Abend anders. Je mehr das Publikum mitgeht, desto besser wird die Musik – das zeigt auch die Reportage aus dem Zig Zag Club. Nach der Wende ist neben dem Quasimodo oder dem A-Trane im Westen eine vielfältige neue Jazzlandschaft im Osten der Stadt entstanden: der Jazzkeller 69 im Aufsturz, das Schlot, das B-flat. Über der Clubszene schwebt mit großer Strahlkraft das Jazzfest Berlin im November, das der internationalen Szene eine Bühne bietet. Und noch ist der Traum von einem „House of Jazz" in der Alten Münze nicht gestorben. Till Brönner, der bekannteste Jazzmusiker Berlins, hat sich dafür starkgemacht, und die IG Jazz steht mit einem fertigen Konzept dahinter.
Jazz – das ist Leben, hat Uschi Brüning im Interview gesagt. Jazz – das ist Freiheit. Und in Berlin ist das auf den nächsten Festivals hautnah mitzuerleben – eine Auswahl:
• Das nächste Jazz-Treffen startet am 8. Mai in Kreuzberg: XJazz präsentiert bis 12. Mai die Berliner Szene mit experimentierfreudigen jungen Musikern und Szene-Größen. Beteiligt sind zahlreiche Lokale und Veranstaltungsorte. Infos: www.xjazz.net
• Ein neues Festival beginnt am 31. Mai auf dem Gelände des Holzmarktes (Nähe Jannowitzbrücke): das Berlin Jazz Experiment vom 31.5. bis 2.6. mit dem weltbekannten Sun Ra Arkestra und vielen Berliner Musikern. Infos: www.berlinjazzexperiment.com
• Bei der Jazzdor Strasbourg-Berlin begegnen sich französische und deutsche Jazzmusiker. Vom 4. bis 7. Juni im Kesselhaus der Kulturbrauerei (Prenzlauer Berg). Infos: www.jazzdor-strasbourg-berlin.eu