Seine ersten Schallplatten klaute er in den 60er-Jahren seinem Vater. Heute, Tausende Radiosendungen und zahlreiche Buchveröffentlichungen später, ist Christian Graf ein gefragter Musikexperte. Seine Liebe gilt dem Blues – aus gutem Grund.
Begegnung in einer schicken Altbau-Wohnung im Berliner Bezirk Wilmersdorf: Christian Graf, 66 Jahre, sitzt an einem riesigen Esstisch aus Eichenholz. Vor ihm liegen Dutzende CDs und Schallplatten. „Auch wenn ich seit gut einem Jahr keine Radiosendungen mehr moderiere, besitze ich noch gut 7.000 CDs. Früher waren es mal weit über 20.000. Meine Passion sind die aufwendig gestalteten Boxen." Die Palette der Stilrichtungen reicht von Rock bis Jazz. Auf dem Tisch liegt auch ein großer Bilderrahmen mit Erinnerungen an Grafs Zeit beim ehemaligen Sender „RIAS". Er muss lachen: Die meisten Bilder zeigen ihn hinterm Mikrofon in einem der legendären Radiostudios an der Kufsteiner Straße. „Ich war doch damals ein ganz hübsches Kerlchen", bemerkt er augenzwinkernd. „Aber vor allem hatte ich noch volles Haar." Damals, Ende der 70er-Jahre, waren Graf und seine Kolleginnen und Kollegen vom RIAS-Jugendfunk Stars in West-Berlin und der DDR – zumindest da, wo man den Sender ohne Störsignale empfangen konnte. Denn was über den Äther ging, kam an: „Wir haben zwar vor allem Rockmusik gespielt, aber es kam auch immer mal wieder gut gemachter Jazz auf den Plattenteller."
Jazz sei in den 70er-Jahren ein eher schwieriges Thema in West-Berlin gewesen: „Natürlich gab es schon da die legendären Jazztage. Aber die Szene war insgesamt wegen der politischen Lage sehr überschaubar", erinnert sich Christian Graf. „Es gab nur wenige Clubs mit Live-Musik, und große Konzerte waren selten." Das lag vor allem an der DDR: Musiker und Bands wurden auf dem Transit-Weg nach Berlin an den Grenzen „gleich zweimal richtig in die Mangel genommen. Darauf hatten viele kleine Künstler keine Lust." Graf erinnert sich an ein Interview in der Sendung „RIAS-Treffpunkt": „Da hatte ich den Jazzpianisten und Poeten Cecil Percival Taylor zu Gast. Der ist im Studio, während Musik lief, glatt eingeschlafen." Zuvor war Taylor nämlich stundenlang von DDR-Grenzern kontrolliert und festgehalten worden. „Der war echt platt. Aber dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es war, in dieser Zeit nach Berlin zu kommen."
Nicht das einzige Problem für die Jazzmusik im West-Berlin der 70er. „Die Live-Szene war sehr elitär und eher abschreckend für junge Leute. Ich habe damals ebenso wie viele meiner Kollegen und Freunde lieber Schallplatte gehört als zu Konzerten zu gehen." Anfang der 80er habe man versucht, die Jazztage musikalisch zu öffnen, zunächst mit wenig Erfolg. Graf: „Ich stand bei einem Konzert in der Philharmonie hinter der Bühne. Da ist zum ersten Mal eine Band aufgetreten, die Rhythm and Blues gespielt hat. Das halbe Publikum ist nach der Pause erst gar nicht wieder in den Saal zurückgekommen." Das habe auch die Band gemerkt. „Die haben dann plötzlich wildes Zeug gespielt." Das kam beim elitären Jazzpublikum an. „Die haben das für Free Jazz gehalten und haben die Band gefeiert. Die Musiker selber haben sich nach dem Konzert totgelacht. Denen war der abgedrehte Musikgeschmack westdeutscher Jazz-Liebhaber völlig fremd."
Dies sei dann aber auch nach und nach den Veranstaltern der Jazztage aufgefallen. „Die Jazztage wurden erweitert. Erstmals gab es Konzerte in den Clubs Quasimodo, der Jazzgalerie und dem Quartier Latin. Damit wuchs nicht nur bei mir das Interesse." Schnell wurde Graf Fan der „großen Platten" von John Coltrane, Miles Davis oder McCoy Tyner. „Alle hatten großen Einfluss auf die Rockmusik und alle Spielarten von Rhythm and Blues bis hin zur experimentellen Musik."
Das Radio-Studio als beliebter Anlaufpunkt
Zurück am Esstisch in der Wohnung von Christian Graf: Der Musik-Kenner greift zu einer alten Schaltplatte von John Lee Hooker und grinst: „Neben Muddy Waters mein absoluter Favorit." Zwar werden beide Musiker dem Blues zugerechnet, doch bildet der Blues die musikalische Wurzel eines Großteils der populären nordamerikanischen Musik „Jazz, Rock, Rock’n’Roll und Soul sind nah mit dem Blues verwandt", weiß Graf. „Selbst in Stilrichtungen wie Hip-Hop ist ein Nachhall des Blues zu spüren." Musikalisch seien Bluessongs meist Titel im Viervierteltakt, die Melodie werde mit drei Akkorden begleitet.
Graf hat als Radiomoderator und Autor der „Rock Musik Lexikon"-Serie viele der Musiker persönlich kennengelernt. „Ich habe bestimmt 100 Interviews geführt, von John Lee Hooker bis zu Steve Ray Vaughan." Besonders in Erinnerung sei ihm aber ein Gespräch mit Hooker geblieben. „Ich habe ihn Anfang der 80er-Jahre in seinem Zimmer im ‚Hotel am Zoo‘ (Anm. der Redaktion: damals ein Luxushotel am Bahnhof Zoo) interviewt. Er lag in voller Klamotte und Brokatweste auf seinem Bett." Graf musste auf einem Stuhl nebendran Platz nehmen. Hooker verließ das Bett während des einstündigen Interviews keine einzige Sekunde. „Ein netter Kerl war er trotzdem."
Christian Grafs Liebe zu Musik begann schon früh. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte sein Vater Jürgen, damals Chefreporter und Leiter der Abteilung Aktuelles bei „RIAS". „Mein Vater hatte in den 60er-Jahren neben seinen Reporteraufgaben aus Spaß eine Unterhaltungsmusik-Sendung einmal im Monat moderiert." Papa Graf spielte vor allem Songs von Künstlern wie Frank Sinatra, Count Basie, Dean Martin oder Nelson Riddle, alles Musiker, die irgendwie musikalisch nahe am Jazz sind. Das interessierte den damals 15-jährigen Christian nur wenig: „Aufgrund dieser Sendung wurde mein Vater von allen großen Plattenfirmen bemustert, das heißt, er bekam alle Neuerscheinungen als einer der ersten in Deutschland. Da habe ich ihm einfach die Beatles-, Stones-, Hendrix- und Doors-Platten geklaut. Außerdem war ich 1969 während eines längeren USA-Trips ganz in der Nähe vom Woodstock-Festival." Pech für ihn: Graf war zu diesem Zeitpunkt erst 16 und durfte wegen der strengen US-Gesetze nicht aufs Festival.
Auch ohne Woodstock – der Weg von Christian Graf war vorgezeichnet: 1974 absolvierte er ein Praktikum bei „RIAS" und erhielt nur wenig später einen Ausbildungsvertrag. „Zur Moderation kam ich dann 1976, durch Zufall. Da wurde ein Kollege gefeuert, der auf eigene Faust seinen Karibikurlaub verlängert hatte. So wurde ich Moderator vom ‚RIAS-Treffpunkt‘." Die beliebte Jugendsendung, die jeden Abend ausgestrahlt wurde, war für viele bekannte Musiker ein Anlaufpunkt bei Besuchen in West-Berlin. Ein Glück für Graf, der so immer mehr Musiker kennen und verstehen lernte: „Der große Memphis Slim hat mir in einem Interview 1977 den Satz gesagt: ‚Blues is the mother of all the music‘. Und ja, das ist die Wahrheit ..."
Christian Graf arbeitet zunächst weiter, moderiert unter anderem mehr als 500 Bluessendungen. Nach der Wende wird er von verschiedenen Stationen in ganz Deutschland engagiert und veröffentlicht in mehreren Auflagen das mittlerweile legendäre „Rock Musik Lexikon". „Nach dem Standardwerk ‚Das Rocklexikon‘ von Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos gab es jahrelang keine Aktualisierung. Da wurde ich von einem Hamburger Verlag angeheuert." Auch wo Rockmusik draufstehe, sei eine Menge Jazz beziehungsweise Blues drin. „Vor allem in den Amerika-Bänden gibt es rund 150 Porträts von Bluesmusikern."
Mit Jazz beschäftigt sich der 66-Jährige auch noch heute. „Es gibt nur eine Ausnahme: Free Jazz. Damit kann ich so gar nichts anfangen." Ansonsten hat er zwei klare Favoriten: „Der erste ist Robert ‚Bobby‘ Hutcherson. Das war ein begnadeter US-amerikanischer Vibrafonist des Modern Jazz." Künstler zwei ist des Jazzflötist Jeremy Steig. Dafür gibt es einen Grund: „Steig gehört zu meinen Favoriten, weil er die Querflöte im Jazz gesellschaftsfähig machte und eine Brücke zur anspruchsvollen Unterhaltungsmusik baute."