Martin Walser gilt als einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur. Zahlreiche Preise wurden dem 92-Jährigen für seine Werke verliehen. Doch er war stets umstritten, hatte mehr als einen Kritiker und noch mehr Neider.
Martin Walser ist ein Schriftsteller, der polarisiert. Im Laufe seines langen Lebens hat er eine durchaus beachtliche Liste von Feinden angesammelt. Legendär ist seine Fehde mit dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, die er auch in seinem Roman „Tod eines Kritikers" aufarbeitete und für den er den Vorwurf des Antisemitismus einstecken musste. Das schmerzte den Dichterfürsten und der reagierte auf seine Art – wortgewaltig und nachtragend. So bekommt Reich-Ranicki auch jetzt, in seinem aktuellen Werk „Spätdienst", wieder sein Fett weg. Sieht man sich die damaligen Äußerungen der beiden Kontrahenten an, keimt der Verdacht auf, dass es bei dem Streit gar nicht um Literatur und noch weniger um Politik ging, sondern um den Kampf zweier Alphamänner, die nicht gewohnt waren zurückzustecken.
Vermutlich lag Hellmuth Karasek, Kritikerkollege Reich-Ranickis, durchaus richtig, als er „Tod eines Kritikers" als „Dokument eines schier übermenschlichen Hasses, der den Autor überwältigt, weil er sich lebenslang unter der Fuchtel von Reich-Ranicki sah", beschrieb.
Viel Feind, viel Ehr
Ein anderer Konflikt verbindet Walser mit dem Bodensee-Bildhauer Peter Lenk. Von dem steht mitten in Walsers Wohnort Überlingen das groteske Denkmal „Bodenseereiter" – als unverhohlene Karikatur des Schriftstellers. Es zeigt Walser freudlos auf einem Pferd reitend, an den Füßen trägt er Schlittschuhe.
Lenk nahm Walsers Paulskirchenrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1998 zum Anlass, dieses Werk zu schaffen. Damals hatte sich Walser gegen eine vermeintliche Instrumentalisierung des Holocausts gewandt. Und unter anderem gesagt: „Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen die Dauerpräsentation unserer Schande wehrt." Das brachte Walser Beifall von der falschen Seite und ihm den Ruf ein, im Laufe seines Lebens politisch immer weiter nach rechts gewandert zu sein.
Und wie steht Walser heute zum „Bodenseereiter"? Noch Jahre nach Einweihung des Denkmals im Jahre 1999 versichert Walser, dass er das Lenksche Denkmal nie angeschaut habe. Sogar den Ort, an dem es aufgestellt ist, meide er. Deshalb habe Walser auch seinen Friseur gewechselt, erzählt man, um Lenks zur Statue gewordenen Spott nicht sehen zu müssen.
Bilanz und Abrechnung
Walser mag ein sperriger Charakter sein, vielleicht ein schwieriger Mensch, doch auch seine größten Gegner werden ihm nicht absprechen, dass er zu den ganz Großen der deutschen Nachkriegsliteratur gehört und in eine Reihe mit Böll, Grass und Lenz gestellt werden muss. Er wurde vielfach ausgezeichnet, neben dem bereits erwähnten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels nahm er unter anderem den Georg-Büchner-Preis und den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis in Empfang.
„Spätdienst" zählt aber sicher nicht zu Walsers großen Werken. Das Buch ist kein in sich geschlossener Roman, sondern eine Gedankensammlung, enthält kurze Notate und Erinnerungen.
Der österreichische Literaturkritiker Paul Jandl bewertet es streng. In der „Neuen Zürcher Zeitung" beschreibt er das aktuelle Werk Walsers „als eine Sammlung von Aphorismen und Gedichten nur unter Vorbehalt", die „stickkissenkompatibel" sei, „voller Kitsch und Sentimentalität und nur selten treffsicher …" Man mag Jandl entgegenhalten, dass es schwer ist, über den Tod, den eigenen allzumal, ohne Sentimentalität zu sprechen – wohlwollendere Kritiker als Jandl sprechen daher in Bezug auf „Spätdienst" auch lieber von einem „melancholischen Unterton". Abschied nehmen und Sterben sind die Hauptthemen des Buches. Es ist Walser durchaus anzurechnen, dass er hier seinen Lesern einen ungefilterten Blick in sein Inneres gewährt.
Live vom Bodensee
Bei der zu den Literaturtagen auf Usedom übertragenen Lesung aus Walsers Wohnzimmer spricht der Autor langsam. Behandelt jedes Wort wie eine wertvolle Vase. So sorgsam spricht er es aus, als könne es zerbrechen, wenn er nicht aufpasst. Obwohl Walser Hunderte Kilometer von seinem Publikum entfernt liest – weiter als vom Bodensee im äußersten Südwesten bis nach Usedom weit im Nordosten könnte die Entfernung innerhalb Deutschlands nicht sein – fühlt man sich ihm paradoxerweise näher als bei einer normalen Lesung. Zusammen mit der Kamera, die ihn fast formatfüllend aufnimmt, sitzt man ihm, so scheint es zumindest, direkt gegenüber, wenn er, tief über sein Buch gebeugt, aus „Spätdienst" vorliest. Sogar etwas Privates erhascht man – ein Bild vom Bodensee steht im Buchregal hinter ihm. Hier liest ein Bodenständiger, ein Mann, der seine Heimat Zeit seines Lebens nie länger verlassen hat.
Die süddeutsche Klangfärbung mit dem gewittergrollend rollenden „r", mit der Walser spricht, unterstreicht die Schwere seiner Aussagen, verleiht seinen Worten eine besondere Bedeutung. Sätze wie „Der Sinn der Schöpfung bin ich, zum Sterben geboren" oder „Ich bin ein Fleck, der trocknet. Ich werde gewesen sein" mögen sentimental sein. Aber von Walser vorgetragen, einem Mann von 92 Jahren, hinterlassen sie einen tiefen Eindruck. Da zieht jemand Bilanz, schließt ab und nimmt Abschied – fast fühlt man sich ein wenig wie ein Voyeur.
„Sterben weder bei Sonnenschein, nicht bei elektrischem Licht, sondern bei Kerzenschein". Mit Sätzen wie diesem produziert Walser Bilder, die Mut erfordern und beim Lesen fast wehtun. Denn natürlich nimmt er seine Leser mit ans Totenbett – mit an sein eigenes Totenbett. Und ob man will oder nicht, sieht man den Dichter sterbend vor sich.
Verletzte Seele
Walsers Lebens-Stenogramme sind trotz der von Kritikern benannten Schwächen bewegend. Schwierig wird es allerdings immer dann, wenn der Dichter seine Altersmilde verliert. Und den Leser an seinen Abrechnungen mit seinen Lebensfeinden, den Literaturkritikern Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Frank Schirrmacher, seines Zeichens Mitherausgeber der „FAZ", teilhaben lässt.
Wie schrieb doch Ulrich Greiner in der Zeit? „Es scheint, als wachse die Dünnhäutigkeit gegenüber verletzender Kritik im Alter noch." Der Leser wundert sich, zumal ein Großer wie Walser es gar nicht nötig hätte, Angriffe mit Gegenangriffen zu kontern. Noch einmal Walser in „Spätdienst: „Die Straßenbahnen fahren auf mich zu, angefüllt mit Feinden, jeder Zeitungsverkäufer bietet mir ein Todesurteil an, Äpfel faulen, wenn ich sie anschaue, das Jahr verkommt, selbst Tauben richten Gewehre auf mich."
„Lass gut sein", möchte man Martin Walser zurufen, ihm wünschen, dass er seinen Frieden nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen machen kann. Dann könnte man auch Nina May zustimmen, die „Spätdienst" in der „Märkischen Allgemeinen" rezensierte und schrieb: „Schöner kann man vom Loslassen kaum schreiben".