Alte Basare, Schlangenbeschwörer, duftende Gewürze und Paläste wie aus Tausendundeine Nacht: Marrakesch gehört zu den faszinierendsten Städten der Welt.
„Frischer Orangensaft, Granatapfelsaft, gemischte Fruchtsäfte", ruft ein Verkäufer von seinem Wagen. Alle paar Meter gibt es Datteln und Nüsse. Frauen bieten die Bemalung mit Henna-Tattoos an. Auf der anderen Seite breitet der Schlangenbeschwörer auf dem Djemaa el Fna sein Lager aus. Der große Platz ist das Zentrum der Altstadt Marrakeschs, mittendrin zu sein ist ein Erlebnis. Den besten Überblick auf das bunte Treiben bietet die Dachterrasse des „Café de France".
Am Vormittag geht es eher beschaulich zu. Nach und nach kommen die Wahrsager, Gaukler, Geschichtenerzähler, Tänzer, Trommler, die fliegenden Händler und Affendresseure. Immer mehr Leute kommen hier zusammen und sorgen für ein buntes Stimmengewirr. Abends verwandelt sich der Platz in eine riesige köstlich duftende Küche: Gegrillter Fisch, Huhn und Rind werden in der Tajine zubereitet, Lammwürstchen, Couscous, Auberginen, Paprika und vieles mehr an Ständen angeboten.
Schon der Schriftsteller Paul Bowles konnte sich der Faszination nicht entziehen und schrieb: „Ohne den Djemaa el Fna wäre Marrakesch nur irgendein marokkanischer Platz in irgendeiner marokkanischen Stadt." Wer das Spektakel auf dem Platz erlebt, versteht, warum die Unesco den Djemaa el Fna 2001 als ersten Ort in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen hat.
Gefangene wurden früher hier geköpft
Djemaa el Fna heißt so viel wie „Platz der Zerstörung". Von hier gingen die Aufstände los, hierher wurden die Gefangenen getrieben und geköpft und hier platzierte sich der Souk, der Markt. So war der Djemaa el Fna seit Anbeginn das Zentrum der Stadt. Auch das Wahrzeichen Marrakeschs befindet sich hier, die im 12. Jahrhundert errichtete 70 Meter hohe Koutoubia-Moschee. Sie diente als Vorbild für die Moschee Giralda in Sevilla.
Ich gehe auf die Dachterrasse des Cafés und bestelle einen „Nuss Nuss", einen starken Kaffee mit Milch und schaue dem Spektakel auf dem Platz zu. Die Marokkaner neben mir trinken den typischen Minztee. Hinter mir leuchten die schneebedeckten Gipfel des Atlasgebirges.
Marrakesch ist mal traditionell, mal hypermodern und oft wie aus 1001 Nacht. Seine Besucher suchen die Kultur oder schillernde Nachtclubs, sind mit dem Rucksack oder einer Gruppe unterwegs, organisiert oder individuell. Von Studenten bis hin zu Hollywoodstars ist hier alles unterwegs. Auch immer mehr Marokkaner aus dem Rest des Landes zieht es in die heimliche Hauptstadt.
Eine schmale Gasse nördlich des zentralen Platzes führt mich mitten in den Souk. Das unüberschaubare Warenangebot, die Rufe der Händler, der Duft nach Koriander, Minze, Zimt, Jasmin und Orangenblüten und die vielen Farben sind eine Welt für sich. Hier weiß man kaum, wo man zuerst hinschauen soll. Nach Innungen aufgeteilt, werden Schuhe und Taschen aus Leder, Teppiche, Decken, Schals, kunstvoll bemalte Schalen und Teller und fein gearbeitete Lampen aus gestanztem Metall angeboten. Dazwischen gibt es immer wieder Gewürze, die größten und leckersten Datteln und marokkanisches Gebäck. Schon beim bloßen Blick auf eine Tasche verstrickt mich der Händler in ein Gespräch, zeigt andere Modelle, versucht zu handeln.
Wie in einem Labyrinth verlaufen die Gassen, von denen ständig neue abzweigen. Mein Stadtplan ist nutzlos, denn Namen sucht man hier vergeblich. Als es nur nach rechts oder links geht, komme ich mit Joachim Hofmann aus Heilbronn ins Gespräch, der den gleichen Plan wie ich in den Händen hält und genauso ratlos schaut. „Die Souks sind fantastisch, aber ein Ziel zu erreichen, ist gar nicht so einfach", sagt Joachim und lacht. Wer sich verläuft, fragt einfach nach der Richtung zum Platz, „la Place" ist das Synonym für den Djemaa el Fna.
Das „Maison de la Photographie" mit einem Café auf der Dachterrasse ist ein Geheimtipp. Am Rande der Souks zeigt es eine einzigartige Sammlung historischer Fotografien aus der Zeit zwischen 1860 und 1950. Der Franzose Patrick Manac’h hat über 4.000 historische Aufnahmen zusammengetragen, die Menschen, Städte und Landschaften vergangener Zeiten zeigen. Die Ausstellungen erzählen die Geschichte Marokkos.
Während auf der Straße die Händler ihre Gewürze, Lampen und Keramikschalen anpreisen, erreichen wir nach wenigen Metern ein Meisterwerk der Handwerkskunst: Die Koranschule Medersa Ben Youssef aus dem 16. Jahrhundert. Versteckt hinter hohen Mauern liegt nach einem langen Gang ein riesiger Innenhof mit Böden aus Marmor, Wänden mit feinen Mosaiken, Stuckarbeiten und filigranen Zedernholzschnitzereien. Weitere kunstvoll verzierte Arkadengänge und Räume machen aus diesem historischen Gebäude ein Gesamtkunstwerk.
Fünf Dynastien prägten die Geschichte der Stadt
Wir schlendern weiter durch die Gassen, verlaufen uns, schlagen einen neuen Weg ein. „Egal, wo man langgeht, es gibt immer etwas zu entdecken", sagt Joachim. Völlig überraschend liegt vor uns inmitten der Medina das Tor zu einer grüne Oase, le jardin secret, der versteckte Garten. Hier wurde in einem großen Innenhof eines ehemaligen Palastes ein Garten mit Café angelegt. Wir wissen sofort, dass wir bleiben, um nach den vielen Eindrücken etwas innezuhalten. Ein marokkanisches Sprichwort sagt: „Die Leute, die in Eile sind, sind schon gestorben". Wir lassen uns noch ein bisschen durch das bunte Gassengewirr treiben und den Tag bei einer leckeren Tajine ausklingen.
Während Joachim mit seinem Neffen in Richtung Atlas-Gebirge aufbricht, lasse ich mich in die Kunst der marokkanischen Küche einweihen. Bei einem Kochkurs im „Riad Lotus Privilege" weist Laila auf den Einfluss der Berber, Araber, Juden, Mauren und Römer hin. Sie brachten die unterschiedlichen Gewürze, Gemüsesorten und Gerichte nach Marokko. „Bei uns mischt sich die orientalische, mediterrane und afrikanische Kochkunst", sagt die Köchin. Sie greift zu Ingwer, Kurkuma, Koriandersamen, Pfeffer, Kreuzkümmel und süßer Paprika. Zu den wichtigsten Gewürzen gehört Raz el Hanout, es ist eine Mischung aus etwa 45 einzelnen Gewürzen, für die jede Familie ihr eigenes Rezept hat. Leila nimmt eine Tajine, das typische Tongefäß mit trichterförmigem Deckel, und füllt es mit Hähnchenschenkeln, Kartoffeln, Gewürzen und Zitrone. Nach einer knappen halben Stunde ist das Gericht fertig. Die vielfältigen Aromen sorgen für ein wunderbares Geschmackserlebnis. Gewürze gehören zu den schönsten Mitbringseln aus Marokko.
Marrakesch besitzt eine tausendjährige Geschichte, die von fünf aufeinanderfolgenden Dynastien beherrscht wurde. Einst als Basislager für die Kontrolle über den hohen Atlas gegründet, erblühte sie zur Hauptstadt. Die ersten Moscheen sowie ein großer Souk entstanden. Es folgten Eroberung, Zerstörung und Neuaufbau. Viele Paläste und Gärten entstanden unter der Herrschaft der Almohaden. Wieder erfolgte ein Niedergang der Stadt. Erst unter den Saadiern erlebte die Stadt erneut eine Blüte. Im 16. Jahrhundert wurden die prachtvollsten Bauwerke geschaffen, der El-Badi Palast, die Madras Ben Youssef sowie die Saadiergräber. Doch der Glanz dauerte nur ein paar Jahrzehnte. Die Paläste wurden zerstört und Fez zur Hauptstadt erklärt. Im Jahr 1912 wurde Marokko zum französischen Protektorat. Die Franzosen schufen in Marrakesch die modernen Stadtviertel Guéliz und Hivernage. Seit 1956 ist Marokko eine konstitutionelle Monarchie.
Ein paar Gassen südlich vom großen Platz erstreckt sich die gigantische Ruine des El-Badi-Palasts. Inspiriert von der Alhambra in Granada war der Palast der größte, der in Marokko je gebaut wurde. Gleich in der Nähe befinden sich die prächtig verzierten Gebäude der Saadiergräber in einem schönen Garten. Hier ruht der Sultan al Mansour, seine Familie und seine Lieblingskonkubinen. Ein paar Schritte in Richtung Platz zurück ist hinter hohen Mauern der Bahia-Palast versteckt. Ende des 19. Jahrhunderts entstand hier ein orientalisches Prachtstück nach den Prinzipien Maurischer Palastarchitektur. Innenhöfe, Gärten, Brunnen als Verbindung von Himmel, Wasser und Erde, reich verzierte Innenräume und Gemächer machen diesen zauberhaften Ort aus. Auch Filmemacher wissen den Palast zu schätzen. Er war Drehort des Oscar-prämierten Films „Lawrence von Arabien", der Peter O’Toole und Omar Sharif zu Weltstars machte.
Die Gärten gehören nicht nur zu den Palästen dazu. Auch Riads besitzen nach maurisch-arabischer Tradition einen Innenhof mit einer grünen Oase. Ihre unscheinbaren Türen lassen nicht erahnen, welche Pracht sich dahinter verbirgt. Hinter den Mauern eröffnet sich ein kleines Paradies und ein wunderbarer Ort der Ruhe. Viele der ehemaligen Wohnhäuser wohlhabender marokkanischer Familien sind heute Boutiquehotels mit Dachterrasse.
Duft der Stadt liegt in der Luft
Die legendärste Adresse der Stadt ist das „Hotel La Mamounia". Winston Churchill entfloh den kalten englischen Wintern. Er schrieb hier an seinen Memoiren und fand das perfekte Licht, um zu malen und in dem riesigen maurischen Garten das passende Motiv. Seine Begeisterung für „den schönsten Platz auf Erden" teilte er mit den Staatsmännern Franklin D. Roosevelt oder Charles de Gaulle. Das Hotel hatte in dem Film „Marokko" mit Marlene Dietrich einen großen Auftritt. Ebenso gedreht wurde hier der Filmklassiker „Der Mann, der zu viel wusste" von Alfred Hitchcock. Viele Größen der amerikanischen und französischen Filmszene zog es in die schillernde Stadt und das „La Mamounia": Richard Gere, Nicole Kidman, Tom Cruise, Catherine Deneuve und viele andere. Auch Modedesigner wie Yves Saint Laurent und Pierre Balmain waren dabei. In den wilden 70er-Jahren entdeckte die internationale Musikerszene Marrakesch. Ins „La Mamounia" kamen die Rolling Stones, Bing Crosby, Stills, Nash & Young, die ihren Hit „Marrakech Experess" schrieben. Bis heute zieht das Fünf-Sterne-Hotel große Namen aus der ganzen Welt an. Ursprünglich war der prächtige drei Hektar große Garten, außerhalb der Altstadt und vor der Kulisse der schneebedeckten Gipfel des Atlasgebirges, das Hochzeitsgeschenk des früheren Sultans an seinen Sohn Moulay Mamoun. Um die opulenten Partys des Prinzen ranken sich viele Legenden. Auf diesem Areal wurde 1923 das „La Mamounia" im marokkanischen und Art-Déco-Stil eröffnet. Nach vielen Umbauten und Erweiterungen hat das Haus bis heute seinen Charme nicht verloren. „Das ‚Mamounia‘ ist ein besonderer Palast mit einer besonderen Geschichte", sagt Aziz Chfelhi, der seit 45 Jahren an der Rezeption arbeitet. Er kennt die Gäste sowie die Familien, die seit Generationen kommen. „Das Mamounia ist mein Zuhause geworden", sagt er, der gern in Marrakesch lebt. Es sei die Mischung aus Afrika und Europa, die den Charme der Stadt ausmacht.
Für den Modemacher Yves Saint Laurent war Marrakesch ein Ort der Inspiration. Er verliebte sich in den exotischen Garten des Malers Jaques Majorelle. Als der Garten zu verfallen schien, kaufte er ihn und ließ ihn wieder herrichten. Yves Saint Laurent lebte hier bis zu seinem Tod 2008. Heute gehört zu dem Garten ein kleines Museum für Berber- und islamische Kunst, eine schönes Café im Innenhof sowie ein neues Yves-Saint-Laurent-Museum, das sein Schaffen und seine Kreationen zeigt. Auch der Künstler André Heller verliebte sich in Marokko und schuf außerhalb von Marrakesch einen Garten mit vielen Kunstwerken.
Auf dem Djemaa el Fna preisen die Köche weiterhin ihre Gerichte an. Hier und da bilden sich Schlangen vor den Ständen, und an den Tischen ist kaum noch ein Platz frei. Der Geschmack Marrakeschs liegt in der Luft.