Die Ursachen für Alzheimer-Demenz sind noch immer unbekannt. Nun legen aktuelle Studien nahe, dass ein vom Mund ins Gehirn gewandertes Parodontitis-Bakterium die Krankheit durch Schädigung der Nervenzellen begünstigen kann.
Keine gute Nachricht für Parodontitis-Erkrankte, von denen es hierzulande etwa elf Millionen gibt. Die bakterielle Entzündung des Zahnhalteapparates (dazu zählen Zahnfleisch, Zahnzement, Wurzelhaut und Kieferknochen, so die offizielle Definition der Krankheit), wird umgangssprachlich auch als Parodontose bezeichnet. In Deutschland ist sie laut der aktuellsten Deutschen Mundgesundheitsstudie bei der Hälfte aller Erwachsenen im mittleren Alter und bei zwei Dritteln der Senioren verbreitet. Seit Langem ist bekannt, dass die Parodontitis durch Zahnausfall nicht nur das Gebiss schädigen, sondern auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfälle, Lungeninfektionen oder Diabetes verursachen oder verstärken kann.
Dass es womöglich auch einen Zusammenhang zwischen Parodontitis und Alzheimer geben könnte, hat eine ganze Reihe von Studien der letzten Jahre vermuten lassen. Beispielsweise hatten taiwanesische Forscher 2010 herausgefunden, dass sich bei Senioren mit Parodontitis das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, um 70 Prozent erhöhen kann. Auch eine gleichzeitig veröffentlichte Untersuchung eines dänisch-amerikanischen Wissenschaftlerteams konnte nachweisen, dass ältere Menschen, die unter Parodontitis leiden, mit signifikant größerer Wahrscheinlichkeit an Alzheimer erkranken als Vergleichspersonen mit gesunden Zähnen. Schon damals konnte belegt werden, dass Alzheimer-Patienten in ihrem Blut eine erhöhte Anzahl bestimmter Antikörper und entzündungstypischer Substanzen aufwiesen, die üblicherweise als Merkmale von Parodontitis galten. 2016 konnten britische Wissenschaftler einen der wesentlichen Bakterien-Übeltäter einer chronischen Parodontitis namens Porphyromonas gingivalis im Gehirn von Alzheimer-Patienten nachweisen, ohne jedoch Erklärungen für diese zerebrale Bakterienbesiedlung anbieten zu können. Sie beschränkten sich lediglich auf den Hinweis, dass die Bakterien entzündliche Prozesse im Gehirn verstärken könnten.
Kognitive Beeinträchtigung
Zwei unlängst publizierte Studien gehen noch einen Schritt weiter, was den Zusammenhang zwischen Parodontitis und Alzheimer betrifft. Forscher der University of Illinois in Chicago unter Federführung der Parodontologin Prof. Keiko Watanabe waren in ihrer im Oktober 2018 im Fachmagazin „Plos One" erschienenen Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, dass als Folge einer unbehandelten Parodontitis die daran beteiligten Bakterien flugs ins Gehirn wandern und dort Prozesse, vor allem die Bildung seniler Plaques aus dem Eiweißfragment Beta-Amyloid, auslösen konnten, die gemeinhin mit der Alzheimer-Krankheit verbunden werden. „Frühere Studien", so Prof. Watanabe, „konnten bereits eine enge Verbindung zwischen einer Parodontitis und kognitiven Beeinträchtigungen zeigen, unsere Studie ist jedoch die erste, die zeigt, dass die Belastung durch Parodontitis-Bakterien zur Bildung altersbedingter Eiweißablagerungen oder Plaques führt, die die bei Alzheimer-Patienten beobachtbaren krankhaften Prozesse beschleunigen können." Das Ergebnis verblüffte sogar die Forscher selbst. Watanabe: „Das war eine große Überraschung. Denn wir hatten nicht erwartet, dass der Parodontitis-Erreger einen so großen Einfluss auf das Gehirn haben würde oder dass die Auswirkungen durchweg so stark der Alzheimer-Krankheit ähneln würden." Die vorschnelle Schlussfolgerung, Parodontitis als wesentliche mögliche Ursache für Alzheimer zu deklarieren, hatten die Wissenschaftler natürlich tunlichst vermieden. Doch immerhin merkte Prof. Watanabe an, „dass Parodontitis-Bakterien die Entwicklung der Alzheimer-Krankheit in Gang setzen könnten".
Für ihre Studie hatte das Forscherteam zehn wilde Mäuse verwendet, während üblicherweise genetisch veränderte Tiere für Alzheimer-Untersuchungen benutzt werden. Bei den Versuchstieren wurde über einen Zeitraum von 22 Wochen durch orale Verabreichung von Parodontitis-Bakterien eine chronische Parodontitis-Erkrankung ausgelöst, die durch Weichteilschäden und Knochenverlust in der Mundhöhle erkennbar war. Nach Ablauf der Versuchsperiode wurde das Hirngewebe der Mäuse untersucht und mit demjenigen unbehandelter Tiere verglichen. Dabei stellte sich heraus, dass im Hirngewebe der Mäuse, die den Bakterien ausgesetzt waren, erheblich höhere Mengen an angesammelten Beta-Amyloiden, den typischen Ablagerungen bei Alzheimer-Patienten, vorhanden waren. Zudem konnten bei der Mäuse-Bakteriengruppe auch deutlich mehr Hirnentzündungen und weniger intakte Nervenzellen registriert werden. DNA aus den Parodontitis-Bakterien konnte auch im Hirngewebe identifiziert werden, zudem konnte ein bakterielles Protein innerhalb der Nervenzellen ausgemacht werden. „Unsere Daten zeigen nicht nur den Weg der Bakterien vom Mund zum Gehirn, sondern auch, dass eine chronische Infektion zu ähnlichen Auswirkungen auf die Nervenzellen führt wie bei der Alzheimer-Erkrankung", so Watanabe. Die Forscher beschlossen daher ihre Studie mit dem guten Rat, möglichst viel Wert auf die Mundhygiene zu legen. Watanabe: „Die Mundhygiene ist ein wichtiger Vorbote für Krankheiten, einschließlich Krankheiten außerhalb der Mundhöhle."
„Die Mundhygiene ist ein wichtiger Vorbote für Krankheiten"
Im Januar 2019 wurde eine aufsehenerregende, von einem privaten, in San Francisco ansässigen Wirtschaftsunternehmen namens Cortexyme Inc. finanzierte Studie im Fachmagazin „Science Advances" veröffentlicht. Die Autoren, ein Team der amerikanischen University of Louisville unter Federführung des Psychiaters Stephen S. Dominy, dem Mitbegründer der US-Firma, konnten darin die chronische Entzündung des Zahnhalteapparates für die Alzheimer-Demenz verantwortlich machen. Sie konnten das schon genannte Parodontitis-Bakterium Porphyromonas gingivalis ausfindig machen, das vom Mund ins Gehirn gewandert war und dort die Nervenzellen geschädigt hatte. Den Forschern zufolge wäre dann die Alzheimer-Demenz als Folge einer Mundinfektion erklärbar. Oder zumindest könnte der genannte Parodontitis-Erreger einer der bisher vernachlässigten Auslöser von Alzheimer-Symptomen sein. Gestützt wird diese Deutung durch frühere Untersuchungen des Hirngewebes von verstorbenen und lebenden Alzheimer-Patienten, bei denen jeweils Spuren beziehungsweise DNA von Porphyromonas gingivalis nachgewiesen werden konnten.
Auch Dominy und sein Team hatten mit Mäusen gearbeitet und diese sechs Wochen lang mit Parodontitis-Erregern infiziert. Sie konnten anschließend im Gehirn der Tiere entsprechende Bakterien sowie deren Toxine und eine erhöhte Zahl abgestorbener Nervenzellen mit Alzheimer-typisch gebildeten Beta-Amyolid-Ablagerungen feststellen. Da der Parodontitis-Erreger Porphyromonas gingivalis seit jeher schon dafür bekannt ist, aus größeren Infektionsherden der Mundhöhle in andere Körperregionen wandern zu können, war sein Auftauchen im Gehirn keine große Überraschung mehr. Seine zerstörerische Wirkung beruht auf der Freisetzung von toxischen Enzymen namens Gingipaine. Bei ihren Versuchen konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass die Tiere zur Abwehr der zerebralen Enzymattacken mit einer erhöhten Produktion an Beta-Amyloid reagiert hatten, eben genau jenem Proteinfragment, das in den Alzheimer-Plaques zu finden ist. Dominy und seine Kollegen halten das Beta-Amyloid daher für eine antibakterielle Substanz und betrachten die Erhöhung seiner Konzentration als einen Versuch des Gehirns, die Infektion mit dem Parodontitis-Bakterium abzuwehren.
Paradontitis führt nicht zwangsläufig zu Alzheimer
In einem anderen Tierexperiment konnte schon belegt werden, dass ein in das Gehirn injizierter Gingipain-Blocker oder auch bakterientötende Antibiotika infizierte Mäuse vor den negativen Folgen von Enzym-Attacken schützen konnten. Dominy und seine Kollegen haben verlautbart, dass sie schon einen passenden antibakteriellen Wirkstoff isolieren konnten, der genau die freigesetzten Enzyme blockieren könne. In Tierversuchen habe er seine Wirksamkeit schon bewiesen, indem er die Zerstörung der Nervenzellen unterbunden habe. Nun gelte es, auf seiner Basis klinische Studien mit Alzheimer-Patienten zu beginnen, von denen erste schon angelaufen seien. Laut ersten Erkenntnissen werde der Wirkstoff gut vertragen und habe bei einigen Versuchspersonen schon zu einer Verbesserung der Gedächtnisleistung geführt. Mit Spannung bleibt abzuwarten, ob der Wirkstoff tatsächlich die Infektion mit dem Bakterium im menschlichen Gehirn stoppen und ob daraus letztlich ein direkter Zusammenhang zwischen Parodontitis und Alzheimer abgeleitet werden kann.
Trotz der vielversprechenden ersten Resultate weisen die Forscher darauf hin, dass man nicht zwangsläufig Parodontitis als ursächliches Erklärungsmodell für Alzheimer ansehen könne. Der renommierte Alzheimer-Forscher Robert Moir vom Massachusetts General Hospital in Boston ist der Meinung, dass das Bakterium Porphyromonas gingivalis durchaus zur Alzheimer-Demenz beitragen könne, dass er aber nicht glaube, dass es die Ursache der Demenzerkrankung sei. Wofür auch die Tatsache zu sprechen scheint, dass nicht jeder Alzheimer-Patient auch an Parodontitis erkrankt ist. Der Wissenschaftsjournalist Jan Osterkamp von der Online-Plattform spektrum.de hat jüngst eine verblüffende Hypothese ins Spiel gebracht, wonach „Alzheimer eine missglückte Reaktion des Hirns auf eingedrungene Erreger" sein könnte.