In vielen Kommunen sprudeln die Einnahmen, andere sind aufgrund der Schuldenlast eigentlich konkursreif, stehen zumindest vor dem finanziellen Kollaps. Seit Jahren wird vor dieser Entwicklung gewarnt, nun scheint Bewegung in die Sache zu kommen.
Sie hatten sich spontan zu einem Trip in die Bundeshauptstadt zusammentelefoniert. Kein wild gewordener Kegelclub oder jung gebliebene Rentnertruppe, aber alle mit einem gemeinsamen Interesse. Die Frauen und Männer im besten Alter haben den gleichen Beruf: Rathauschef beziehungsweise -chefin. Das Einmalige an diesem Berlin-Trip: Die 52 Bürger- oder Oberbürgermeister vertreten und repräsentieren ein komplettes Bundesland. Mitte April hatten sie sich frühmorgens um halb sechs geschlossen in Saarbrücken in den ICE Richtung Bundeshauptstadt gesetzt.
Dort angekommen demonstrierten sie für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland und damit eben auch in ihren Kommunen in ihrem Bundesland Saarland. Adressat ist die Bundespolitik, denn ein wesentlicher Teil der drohenden Überschuldung resultiert aus immer mehr Aufgaben des Bundes, die auf die Schultern der Kommunen verlagert werden. Zum Beispiel Unterbringungskosten nach Hartz IV.
An jenem legendären Dienstagmittag standen die 52 bei strahlendem Sonnenschein geschlossen vor dem Kanzleramt. Angela Merkel, hieß es nachträglich aus der Stabsstelle, hätte sich gern der Sorgen der Bürgermeister und Bürgermeisterinnen angenommen. Doch just zur selben Zeit musste sie sich um die britische Premierministerin Theresa May kümmern, die sich zur Visite im Kanzleramt angemeldet hatte. Da konnte sie nicht weg. Brexit schlägt kommunale Schulden im Terminkalender. Noch. Denn der Druck von den Kommunen auf die Bundespolitik nahm in den letzten Monaten rapide zu.
Es darf nichts dazwischen kommen
Bürgermeister und Landräte fühlen sich von der Bundespolitik zunehmend im Stich gelassen. Das gilt nicht nur für die aktuelle Verteilung von Hilfen für den Strukturwandel. Viele Kommunen schieben nämlich bereits aus früheren Strukturbrüchen massive Schuldenberge vor sich her.
Das hat zunehmend zu einer kommunalen Zwei-Klassen-Gesellschaft geführt: Kommunen in wirtschaftlich prosperierenden Regionen profitierten von der zuletzt guten Konjunktur zusätzlich, die in den schwächeren Regionen blieben in einer Vergeblichkeitsfalle stecken. Gut 70 hochverschuldete Städte haben sich in der Initiative „Für die Würde der Städte" zusammengeschlossen.
Mit dabei ist auch der Rathauschef von Kaiserslautern, Klaus Weichel. Er ist einer der vielen ungekrönten Schuldenkönige einer Stadtverwaltung in Deutschland.
Kaiserslautern hat fast eine Milliarden Altschulden aufgetürmt. „Seit über 20 Jahren verabschieden wir Haushalte für unsere Stadt, die durch nichts gedeckt sind", gibt der 63-Jährige im FORUM-Gespräch zu Protokoll. „Streng genommen ist das alles illegal was wir da machen." Damit ist Oberbürgermeister Weichel aus Kaiserslautern nicht allein. An seiner Seite stehen über 70 weitere Amtskollegen und Amtskolleginnen, die ebenfalls seit Jahren im haushälterischen Untergrund operieren müssen.
Dem Bund ist das alles zur Genüge bekannt. Seit Monaten ist man nun mit den Ländern dabei, eine Entschuldung der Kommunen mit den immensen Altschulden auf den Weg zu bringen.
Klaus Weichel schwebt dabei ein ganz bestimmtes Modell vor: „Der Bund übernimmt die Hälfte der Altschulden und die Länder teilen sich die andere Hälfte mit den Kommunen". 50 Prozent – 25 Prozent – 25 Prozent.
Das Kritische an den Altschulden: Es sind Kassenkredite. Das ist sozusagen ein Dispokredit für Kommunen, vergleichbar mit einem privaten Dispo bei der Bank. Und mit diesen Kassenkrediten, die ursprünglich nur zur kurzfristigen Überbrückung gedacht waren, müssen Kommunen ihre laufenden Ausgaben bestreiten.
Das Problem: Diese Kassenkredite müssen jeden Monat erneuert werden, fest planbare Zinssätze gibt es nicht. Und wie bei Privatleuten ist der Städte-Dispo bei der Verzinsung teurer als ein langfristiger Kredit. Hinzu kommt: Diese Kassenkredite sind eigentlich nicht gedeckt. Haushaltsrechtlich eigentlich ein Unding, aber seit Jahrzehnten von allen Seiten geduldet. Doch wenn eine Kommune sich von Monat zu Monat ausschließlich mit der Finanzierung seiner aktuellen Ausgaben beschäftigen muss, bleibt wenig Zeit für das Wesentliche, und für das wäre dann sowieso kein Geld da. Von Investitionen in die Zukunft mal ganz abgesehen.
Bund und Länder sind sich grundsätzlich einig, dass es so nicht weitergehen kann. Vor allem, da in nicht einmal einem Dreivierteljahr die Schuldenbremse auch für Kommunen greift. Damit drängt die Zeit, eine Regelung zu finden, um die Altschulden-Kommunen wieder fit zu machen. Der Bund hat mit der Einsetzung der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse das Problem eingestanden. Dass er sich auf die vorgeschlagene 50 – 25 – 25 Regelung einlässt, darf bezweifelt werden.
Es muss politisch gewollt sein
Im saarländischen Finanzministerium ist man trotzdem zuversichtlich, dass es noch in diesem Jahr eine Regelung geben wird. Aber die Zeit für dieses Projekt wird knapp. Bis Ende Juni müssen zumindest die Eckdaten der Entschuldung unter Dach und Fach sein. Also eine grundsätzliche Entscheidung, wer wie viel des unappetitlichen Schuldenkuchens nimmt. Soll bis Ende des Jahres eine Altschulden-Regelung unter Dach und Fach sein, darf aber auch politisch auf Bundesebene nichts dazwischenkommen. Schon die absehbare Kabinettsumbildung nach der Europawahl Anfang Juni kann kostbare Zeit kosten, eine größere Umbildung, über die die Spekulationen nicht abreißen, würde alle Zeitpläne über den Haufen werfen. Zwar werden solche weitreichenden Entscheidungen wie eine Umschuldung der Kommunen auf höchster Abteilungsleiterebene eingefädelt. Aber dies muss auch politisch gewollt sein. Ein neuer Minister könnte plötzlich andere Schwerpunkte setzen. Gäbe es gar vorgezogene Neuwahlen, würden die das ganze Projekt „kommunale Altschuldenregelung" in diesem Jahr wohl zunichtemachen, sagte ein hochrangiger Vertreter aus dem saarländischen Finanzministerium gegenüber FORUM.
Vor einer weiteren Hürde warnt Prof. Martin Junkernheinrich, der kommunale Schuldenexperte der Republik. „Diese Entschuldung muss in 30 Jahren vollzogen sein, alles andere macht keinen Sinn, die Kommunen müssen schnell wieder handlungsfähig werden", warnt Junkernheinrich eindringlich (Interview siehe unten). Wie im richtigen Leben bedeutet aber auch eine schnelle Entschuldung eine höhere Belastung für die Länder- und den Bundeshaushalt. Im Bundesfinanzministerium hält man sich selbst mit einem offiziellen Kommentar zu den bisherigen Vorschlägen zurück. Eine eigene Idee aus dem Hause Scholz wurde bislang auch nicht auf den Tisch gelegt. Schulden-Professor Junkernheinrich wundert dies überhaupt nicht. „Wir reden hier von einem angehäuften Schuldenberg von über 50 Milliarden Euro Kassenkredite".
Statt eigener Vorschläge präsentiert das Bundesfinanzministerium vor allem Warnungen, wohl auch, um Hoffnungen zu dämpfen. Die Konjunkturprognose wurde auf ein Wachstum von 0,5 Prozent gesenkt. Der Arbeitskreis Steuerschätzung hat einen Einnahmerückgang von bis zu 15 Milliarden Euro prognostiziert, für Bundesfinanzminister Olaf Scholz Argumente gegen eine zu hohe Beteiligung des Bundes.
Einige Länder haben inzwischen Verantwortung für ihre Kommunen übernommen, Stichworte „Hessenkasse" oder „Saarlandpakt". Beide Länder übernehmen bis zu 50 Prozent der kommunalen Verbindlichkeiten. Dagegen ist Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) von einem Mehr an „Verantwortung der Länder", sprich einem möglichen „NRW-Pakt", überhaupt nicht begeistert. Ein Drittel der 72 völlig überschuldeten Kommunen Deutschlands liegen in seinem Bundesland.