In diesem Jahr feiert das Museum Europäischer Kulturen (MEK) in Berlin-Dahlem seinen 20. Geburtstag. Die Geschichte des Museums begann aber eigentlich schon vor 130 Jahren. Und dabei spielte der Mediziner Rudolf Virchow eine bedeutende Rolle, verrät Museumsdirektorin Elisabeth Tietmeyer.
Frau Professor Tietmeyer, was hat ein Pathologe und Hygienikexperte wie Virchow mit dem Museum zu tun?
Ja, das wissen die Wenigsten, dass Rudolf Virchow sich auf vielfältige Weise auf den Gebieten der Anthropologie, der Ethnologie sowie der Ur- und Frühgeschichte betätigte. Er sammelte unter anderem Alltagsgegenstände der ländlichen Bevölkerung in Deutschland aber auch aus den angrenzenden Staaten. Auf diese Weise wollte er dafür sorgen, dass sie nicht im Rahmen der Industrialisierung und dem einhergehenden Kulturwandel verschwinden würden.
Aber wie konnte Virchow eine Sammlung finanzieren – ohne einen Mäzen – sprich einen Geldgeber – ging das doch sicher nicht ?
1889 gründete Virchow auf privater Basis das „Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Handgewerbes", das spätere Museum für Deutsche Volkskunde. Das wurde dann 1999 zum Museum Europäischer Kulturen. Schon damals wollte Virchow partout, dass dieses Museum unter staatliche Obhut kam. Aber erst nach seinem Tod ging es 1904 an das Museum für Völkerkunde, wo es als Sammlung für deutsche Volkskunde der Prähistorischen Abteilung zugeordnet wurde. Bis dahin war die Sammlung ökonomisch von privaten Spenden abhängig. Der bekannte Mäzen James Simon finanzierte den Ankauf von Objekten und setzte sich persönlich beim damaligen Kaiser für die Übernahme des Hauses in den Verbund der Königlich Preußischen Museen ein. Man kann sagen, ohne Virchow und Simon gäbe es das heutige Museum nicht.
Seit über 130 Jahren arbeiten Wissenschaftler also daran, die Sammlung beständig zu erweitern ?
Mehr oder weniger, denn 80 Prozent der volkskundlichen Sammlung wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört oder sind verloren gegangen. Aber was war zuvor passiert? Nach dem Untergang des Kaiserreichs erhielt die Sammlung für deutsche Volkskunde 1935 ihre institutionelle Eigenständigkeit unter der Leitung von Konrad Hahm als „Staatliches Museum für Deutsche Volkskunde". Gleichzeitig wurde im Museum für Völkerkunde die Abteilung Eurasien von Hermann Baumann gegründet. Auch hier wurden ausgewählte Objekte des täglichen Lebens gesammelt, aber nicht aus den deutschsprachigen Gebieten – das war die Aufgabe des Museums für Deutsche Volkskunde –, sondern aus den anderen europäischen Ländern und Nordasien. Dabei spielte der „Rettungsgedanke" eine Rolle; man wollte die Erinnerung an Lebenswelten bewahren, die durch die Industrialisierung scheinbar unterzugehen drohten. Eine andere Motivation lag in der Nazi-Ideologie von der „Suche nach Lebensraum", die Hermann Baumann vertrat.
Wie sah die Entwicklung der beiden Museen nach dem Krieg aus?
Deutschland war politisch gespalten: Die Rückführung der an verschiedenen Orten Ost- und Westdeutschlands ausgelagerten volkskundlichen Objekte hatte die Entstehung von zwei Museen zur Folge. Einige Objekte waren auch im Krieg verschont geblieben: So kam im Osten Berlins ein Teil des volkskundlichen Museums Anfang der 1950er Jahre auf der Museumsinsel unter. 1959 konnten Objekte, die während des Krieges nach Wiesbaden ausgelagert worden waren, zurückgeführt werden – und so entstand im Westen Berlins, in Dahlem, ein weiteres volkskundliches Museum. Die europäischen Objekte verblieben mit der Abteilung Europa (ehemals Eurasien) im Museum für Völkerkunde, ebenfalls in Dahlem, und waren damit weiterhin vom Museum für Deutsche Volkskunde getrennt. Hier fand erst in den 1980er- Jahren eine inhaltliche Annäherung zwischen den beiden Institutionen statt, indem gemeinsame Tagungen und Ausstellungen mit europäischer Ausrichtung organisiert wurden.
Und nach der Wende 1989?
1992 ging mit der Wiedervereinigung der Staatlichen Museen auch eine Zusammenführung der beiden volkskundlichen Teilmuseen einher. Dies geschah in Dahlem mit dem Ziel einer Neuprofilierung. Das heißt, man wollte sich mehr mit Gegenwartsfragen auseinandersetzen und soziale und kulturelle Prozesse begleiten. Hierzu war eine stärkere europäische Ausrichtung unumgänglich – darum bot sich die Fusion mit der Abteilung Europa des späteren Ethnologischen Museums an. Sie erfolgte am 24. Juni 1999 und daraus wurde das „Museum Europäischer Kulturen", das heute rund 285.000 Objekte der Alltagskultur und populären Kunst beherbergt und sich nach wie vor am Standort Dahlem befindet.
Ethnologisches Museum und das Museum für Asiatische Kunst sind geschlossen – sie werden Dahlem in Richtung Humboldt Forum verlassen. Wie wirkt sich das auf das MEK aus?
Befürchtungen, die Museen werden uns und unseren Besuchern fehlen, haben sich nicht bestätigt. Das MEK mit seiner besonderen inhaltlichen Ausrichtung bietet die Chance, sein internationales Alleinstellungsmerkmal weiter auszubauen. Mit einem eigenen Branding und einem neuen Leitsystem ist das Museum im wahrsten Sinne des Wortes sichtbarer geworden und schafft neue Aufmerksamkeit. Die Besucher des MEK entscheiden sich bewusst, zu uns zu kommen, während sie früher am gesamten Standort eher zufällig in unsere Ausstellungen kamen. Viele von ihnen nehmen das Haus ganz anders wahr, andere werden erst auf das MEK aufmerksam gemacht und wundern sich, dass es an dem Standort noch ein geöffnetes Museum gibt. Für uns bedeutet das Herausforderung und Ansporn zugleich, um diesen qualitativ höheren Ansprüchen gerecht zu werden.
Sie haben das Konzept des MEK mit entwickelt. Funktioniert das auch noch nach 20 Jahren?
Unbedingt. Gestartet ist das Museum 1999 mit der Ausstellung „Kulturkontakte Europa: Faszination Bild" – quasi als Pilotprojekt. Mit dieser Ausstellung verfolgten wir damals unsere europäische Ausrichtung mit partizipativen Strategien. Wir wollten mit den Menschen, um die es geht, auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Dabei sollte das MEK weder ein europäisch erweitertes Museum für Volkskunde (mit historischer Orientierung, Anm. d. Red.) noch ein Museum europäischer Völkerkunde (mit Schwerpunkt auf Gebräuchen der Gegenwart, Anm. d. Red.) werden. Volks- und völkerkundliche Ansätze haben wir von Anfang an sinnvoll miteinander verbunden. Das spiegelt sich in allen Ausstellungen wider, so auch in unserer heutigen Sonderausstellung „Hochzeitsträume". Sie greift aktuelle Fragestellungen auf, widmet sich aber ebenso vergangenen Lebenswelten. Denn hier werden Hochzeitsträume von Jung und Alt, von Prinzen und Prinzessinnen, von Prominenten sowie „ganz normalen" Europäern vorgestellt. Und das im Kontext unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft, sexueller Orientierungen und verschiedenen Alters.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Es wird unter anderem beschrieben, wie die traditionelle jüdische Hochzeitzeremonie unter dem Hochzeitsbaldachin, der Chuppa, stattfindet. Von dem französischen Stardesigner Jean Paul Gaultier ist das erste Couture-Brautkleid für den Mann zu sehen, wir zeigen aber auch Entwürfe der Hochzeitskleidung von Schülerinnen des Oberstufenzentrums für Bekleidung und Mode in Berlin. Grundlegend bei allen genanten Beispielen ist aber die Frage, wie die Menschen emotional mit ihrem „wichtigsten Tag im Leben" umgehen.
Für mich ein Hingucker in der Sammlung – die Skulptur „Conchita Wurst auf der Mondsichel".
2014 haben wir die 1,50 Meter hohe Holzskulptur des Bildhauers Gerhard Goder angekauft. Sie zeigt den Travestie-Künstler Thomas Neuwirth als Kunstfigur Conchita Wurst, die den Eurovision Song Contest in Kopenhagen gewonnen hat. Um der androgynen Erscheinung einen illusionären Charakter zu geben, hat der Künstler die Figur auf eine Mondsichel gestellt. Die Skulptur löst unterschiedlichste Reaktionen aus: Manche zeigen völliges Unverständnis, sprechen von Blasphemie, andere sind begeistert und finden es wichtig, wie das MEK auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagiert und damit auch Haltung zeigt.
Ist die Skulptur ein Beispiel für die konzeptionelle Weiterentwicklung des MEK?
Dass Gesellschaften kulturell, sozial, religiös und sexuell divers sind und vor allem aufgrund wachsender Mobilität hybriden Charakter annehmen, ist keine neue Erkenntnis. Neu ist dagegen die Thematisierung dieser Dynamik im Museum. Seit seiner Gründung setzt sich das MEK damit bewusst auseinander, indem es in Forschung, Sammlung, Präsentation und Vermittlung unter anderem aktuelle gesellschaftliche Themen wie „Queerness und Gender" reflektiert, sich zunehmend auch mit dem immateriellen Kulturerbe Europas beschäftigt, wozu definitiv der Eurovision Song Contest gehört.