Der Demokrat Joe Biden hätte Chancen – doch in seiner Partei gibt es Zweifler
Es ist schon eigenartig. Ausgerechnet im jugendvernarrten Amerika gibt die Altersklasse 70+ den Ton an. Präsident Donald Trump, ein Republikaner, ist 72. Und seine aussichtsreichsten Herausforderer bei den Demokraten sind noch älter. Der 76-jährige Joe Biden, Vize unter Präsident Barack Obama, liegt derzeit in den Umfragen deutlich vorn. Dahinter folgt der rhetorische Feuerkopf Bernie Sanders, 77. Der Senator von Vermont elektrisiert mit seinen linken Thesen vor allem Jugendliche. Er hätte der in der politischen Mitte angesiedelten Hillary Clinton 2016 fast die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten weggeschnappt.
Die Amerikaner fragen sich in diesen Tagen: Kann Biden Trump im November 2020 schlagen? Kann der noch Ältere den Alten aus dem Amt kegeln? Als Biden am 25. April in der legendären Stahlstadt Pittsburgh seine Kandidatur offiziell bekanntgab, feuerte Trump gleich vier Tweets gegen den „schläfrigen Joe" ab – untrügliches Zeichen, dass er den neuen Wettbewerber erst nimmt.
Biden ist aus mehreren Gründen für den Amtsinhaber gefährlich. Trump markiert den Muskelmann, droht und drischt auf Freund und Feind ein. Biden kommt hemdsärmelig, verbindlich und nahbar daher. Polarisierer gegen Brückenbauer: Vom Politik-Stil her könnten beide unterschiedlicher nicht sein. Sollte Biden tatsächlich die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten erringen, könnte seine versöhnlichere Linie ein Vorteil sein. Insbesondere mit Blick auf gemäßigte Republikaner und unabhängige Wähler. Trumps Dauer-Kampfmodus, seine schrille Polemik sind ermüdend. Irgendwann sehnt sich das Land nach Ruhe.
Mit seinem Bulldozer-Kurs bringt Trump vor allem seine Basis zum Kochen. Im Rostgürtel des Mittleren Westens – in den Kohle-, Stahl- und Autostaaten Wisconsin, Michigan, Ohio und Pennsylvania – hat der Präsident immer noch seine glühendsten Anhänger. Viele der weißen Männer in den alten Industriegebieten, die ihre Jobs verloren haben und sich wirtschaftlich abgehängt fühlten, sprangen auf Trumps Slogan „America First" an.
Doch in etlichen Fällen kamen die weggefallenen Arbeitsplätze nicht zurück. Und neue Stellen waren oft nicht gut bezahlt. Biden richtet sich vor allem an diese enttäuschte Klientel. Er spielt auf der sozialdemokratischen Klaviatur, spricht von der „Würde der Arbeit". Die Leute der Mittelschicht hätten Amerika groß gemacht, nicht Wall-Street-Banker oder Hedgefonds-Manager. Trumps Steuerreform, die in erster Linie Spitzenverdiener begünstigt habe, will er rückgängig machen. Der Demokrat macht sich auf Trumps ureigenstem Terrain zum Anwalt derjenigen, die sich abrackern – und dennoch auf keinen grünen Zweig kommen.
Doch Biden trägt die Auseinandersetzung auch auf das Feld der politischen Kultur. Er geißelt Trumps Reaktion auf den Aufmarsch von Neonazis und die Gegen-Demonstrationen in Charlottesville 2017. Der Präsident sprach damals von „sehr anständigen Leuten" auf beiden Seiten, was ihm von vielen als Instinktlosigkeit ausgelegt wurde. Biden beschwört vor diesem Hintergrund eine „Schlacht um die Seele Amerikas". Botschaft: Unter Trump verlieren die USA ihren moralischen Kompass.
Nach heutigem Stand sieht Biden gegen den Amtsinhaber durchaus respektabel aus. Das große Fragezeichen ist seine eigene Partei. 23 Kandidaten tummeln sich derzeit im Bewerberfeld um die Präsidentschaftskandidatur. Etliche von ihnen und vor allem die Basis erheben radikale Forderungen wie kostenlose Bildung und gesetzlichen Krankenversicherungsschutz für alle. In Deutschland sind dies weithin akzeptierte Bestandteile der sozialen Marktwirtschaft. In den USA, wo die Eigenverantwortung fest verankert ist, haben sie einen sozialistischen Beiklang. Biden vertritt eine eher gemäßigte Position.
Doch der nach links tendierende Teil bei den Demokraten ist nicht zu unterschätzen. Für ihn repräsentiert Biden das eingefahrene Washingtoner System. Bis zu den parteiinternen Vorwahlen ab Januar 2020 werden die jüngeren Kandidaten versuchen, den derzeitigen „front-runner" in den Umfragen als Mann von gestern zu brandmarken. Die jüngsten Vorwürfe gegen Biden, der in der Vergangenheit durch seine Tätscheleien das Gefühl für körperliche Distanz gelegentlich vermissen ließ, war die erste Angriffswelle. Weitere werden folgen.