Die Linke im Europawahlkampf? Von der Partei hört und sieht man derzeit wenig bis gar nichts. Sahra Wagenknecht hinterlässt offenbar eine größere Lücke als gedacht.
Lange hat der Chef der Europäischen Linken über diesen Auftritt nachgedacht. Gregor Gysi will eigentlich nicht mehr wahlkämpfen. Doch sein Parteifreund Pascal Meiser lässt nicht locker. Und dann kann es Gysi auch wieder nicht lassen. Rampensau bleibt Rampensau. Zumindest am Kampftag der Arbeit will er noch mal auf der Bühne im Mittelpunkt stehen. So wie er das seit beinahe 50 Jahren am 1. Mai gewohnt ist.
Berlin, Mariannenplatz im Herzen von Kreuzberg, der mit 1,64 Meter zwar kleine, politisch aber große Mann gibt sich auf der Bühne redlich Mühe. Doch sein Publikum will nicht so richtig in den sozialistischen Schwung kommen, wie er sich das gern gewünscht hätte. Nach dem Auftritt hat man beinahe das Gefühl, Genosse Gregor ist froh, endlich wieder runter zu sein von der Bühne. „Für mich ist die Hauptsache, dass die Leute am 26. Mai wählen gehen, denn jede nicht abgegebene Stimme ist eine Stimme für die Rechten", beschreibt Gysi seine derzeitige Wahlkampfmotivation im FORUM-Gespräch. Auf Nachfrage, ob ihm egal ist, was die Menschen wählen, Hauptsache sie wählen, ist Gysi natürlich ganz Wahlkampfprofi. „Selbstverständlich sollen die Menschen die Linke wählen, denn nur mit der Linken ist ein Neustart für Europa ja überhaupt möglich." Wie dieser Neustart aussehen könnte, bleibt an diesem Nachmittag unklar. Eine weitere Nachfrage erübrigt sich, Gysi muss weiter. Pascal Meiser ist trotzdem froh, die Gallionsfigur der Linkspartei auf der Bühne gehabt zu haben.
Meiser ist Bundestagsabgeordneter und sein Wahlkreis ist Kreuzberg. Um ein Haar hätte er diesen direkt gewonnen, wie Gysi seinen Wahlkreis gleich nebenan, in Treptow-Köpenick. Dass der Wahlkampf der Linken noch nicht so richtig den nötigen Schwung hat, liegt für Meiser auch an den Medien. „Die grenzen uns immer noch so ein bisschen aus. Wenn die Rechten Kritik an Europa äußern, sind die Zeitungen voll damit. Unsere EU-Kritik wird dagegen kaum erwähnt." Pascal Meiser weiß aber auch, dass der EU-Schlingerkurs seiner Partei für reichlich Irritationen bei den Genossen gesorgt hat. Auch er, ganz Politikprofi, umschifft das Thema lieber, räumt aber ein: „Wir kommen momentan nicht richtig ran an die Leute."
Was vielleicht auch an dem mehr als holprigen Wahlprogramm der Linken liegt. „Die Europäische Union braucht einen Neustart" ist eine dieser Wunderformulierungen. Was das für ein Neustart werden soll, darauf konnte sich der entsprechende Parteitag Ende Februar in Bonn nicht annähernd verständigen. Zwei Lager stehen sich in der Linkspartei in dieser Frage unversöhnlich gegenüber: Die Ultra-Anti-Europäer und die Real-Europäer.
Neustart nur mit den Linken, sagt Gysi
Erstere wollen einen völligen Umbau der EU, was bei genauer Betrachtung schon einer Auflösung des Staatenbundes in seiner jetzigen Form gleichkäme. Die Real-Europäer in der Linkspartei träumen von einer „Republik Europa". Viel mehr EU-Entscheidungskompetenz und weniger nationale Entscheidungsgewalt. Mediator und Fraktionschef Dietmar Bartsch hatte auf besagten Parteitag seine liebe Mühe, da noch irgendeinen Kompromiss zustandezubringen. Hauptsache Neustart, wohin auch immer. Diese Flügelkämpfe sorgten auch für einen Namen des Wahlprogramms, der sperriger kaum sein könnte: „Für ein solidarisches Europa der Millionen, gegen ein Europa der Millionäre." Ein schlagkräftiger Claim sieht anders aus. Dabei sind sich die Parteiflügel grundsätzlich ja einig: Für einen EU-Mindestlohn, Abrüstung und stärkere Besteuerung der Konzerne. Grundsatz allein aber reicht nicht, und gefühlt liegt man in allen Fragen Lichtjahre auseinander. Was vermutlich auch zu dem mehr als fragwürdigen Spitzenduo im Wahlkampf geführt hat.
Die 34-jährige Özlen Demirel und der 43-jährige Martin Schirdewan treten für die Linken an. Auf Bundes-, vor allem aber auch auf Europaebene darf man beide als völlige Neulinge bezeichnen. Der Berliner Martin Schirdewan sitzt immerhin im EU-Parlament, wenn auch erst seit zwei Jahren. Özlem Demirel war mal Landeschefin der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen und ist eigentlich politisch bei der Gewerkschaft verdi zu Hause. Das Politpaar hat eines auf jeden Fall gemeinsam: Beide haben noch nie federführend Wahlkampf gemacht.
Doch auch die personelle Struktur des Vorstandes in Partei und Fraktion verrät einiges über die Wahlkampfstärke der Linkspartei. Dietmar Bartsch als verbliebener, aktiver Fraktionschef im Bundestag gilt nicht unbedingt als die „ultimative Wahlkampflokomotive". Das war auch bislang gar nicht seine Aufgabe. Bartsch ist der Vermittler zwischen Bundestagsfraktion und Partei und, was noch wesentlich zeitintensiver ist, zwischen den ganzen Flügeln der Linken. Er war vor allem der Mediator zwischen Parteichefin Katja Kipping und Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Doch die Aufgabe entfällt seit Mitte März, seit Wagenknecht ihren Rückzug angekündigt hatte. Die nun noch verbleibende Parteispitze hat sich in den vergangenen Wahlkämpfen auch noch nicht wirklich hervorgetan. Katja Kipping gilt als Frau aus der Etappe, die allerdings beim Strippenziehen hinter den Kulissen unschlagbar ist. Doch auf den Marktplätzen in der heißen Wahlkampfschlacht fremdelt die 41-Jährige weiterhin.
Und Bernd Riexinger? Der ist ebenfalls seit 2012 Parteivorsitzender und gilt als der Statthalter der Westdeutschen in der Linken. Ansonsten ist er noch nie durch etwaige Omnipräsenz aufgefallen, schon gar nicht bei Wahlkämpfen. Genügend Möglichkeiten hätte er bislang gehabt. Zum Verständnis für diese inhaltliche wie auch personelle Wahlkampfschwäche mag man der Linken zugutehalten, dass ihr in den vergangenen fünf Jahren ihre Politstars mehr oder weniger abhandengekommen sind. Dieser leise Abschied der Alphamännchen schlägt offenbar jetzt erst voll durch.
In der Sache sind sich die Flügel einig
Oskar Lafontaine hat sich, auch krankheitsbedingt, ins Saarland zurückgezogen und ist dort noch im Landtag als Fraktionschef aktiv. Sein ehemaliger Rivale Gregor Gysi sitzt zwar als direkt gewählter Abgeordneter weiterhin im Bundestag, führt dort politisch aber eher ein beschauliches Dasein. Von der großen Wahlkampfbühne wollen beide nichts mehr wissen. Dabei erfreuten sie sich auch über die Parteigrenze hinweg des größten Respekts bei Wahlkämpfen.
Geblieben war für das letzte große Canvassing bei der Bundestagswahl vor knapp zwei Jahren dann noch Sahra Wagenknecht. Sie ist nach eigenem Eingeständnis ausgebrannt. Es wäre kaum verwunderlich, wenn nicht auch die Grabenkämpfe der letzten zehn Jahre an ihr gezehrt hätten. Beim Europaparteitag Ende Februar in Bonn fehlte sie bereits, der Wahlkampf muss ohne Wagenknecht auskommen. Diese ganzen misslichen Umstände hielten sie Anfang April aber nicht von einer Abrechnung mit ihrer Partei ab. Auch das war für einen geeinten, starken und gemeinsamen Wahlkampfstart nicht gerade hilfreich. Nun gilt das Prinzip Hoffnung, dass man vielleicht doch noch häufiger Gregor Gysi überzeugen kann, zumindest ein bisschen wahlzukämpfen, wie am 1. Mai in Berlin-Kreuzberg.