Timo Boll war bei der Tischtennis-WM in Budapest auf dem besten Weg zu zwei ganz großen Erfolgen – ehe das deutsche Idol durch einen Virus hohes Fieber bekam und einmal mehr nur vor seinem Körper statt vor sportlichen Gegnern kapitulieren musste. Boll droht seinen zahlreichen Triumphen zum Trotz ein Laufbahnende als „Unvollendeter".
Schon die vierte Generation der Champions-Schmiede China soll Timo Boll in Schach halten. Trotz der Armada von Weltmeistern und Olympiasiegern aber hat das deutsche Idol in seiner schier endlos scheinenden Laufbahn den Chinesen immer wieder wenigstens ein Schnippchen schlagen und so ziemlich alles gewinnen können, was es im Tischtennis zu gewinnen gibt.
Fast alles jedenfalls. Denn in seiner imponierenden Sammlung fehlen auch nach inzwischen mehr als 20 Jahren in der absoluten Weltelite immer noch die beiden größten Titel überhaupt: Weltmeister oder Olympiasieger hat Boll, der 2003 der erste deutsche Weltranglistenerste gewesen ist und 15 Jahre später noch einmal, zum insgesamt vierten Mal, die Spitzenposition eroberte, bisher nicht werden können.
Zumeist scheiterte Boll – ob allein, im Doppel oder mit der Mannschaft – an der „chinesischen Mauer". Spätestens vor dem letzten Schritt in die sportliche Unsterblichkeit stellte sich wenigstens ein Ass aus dem Reich der Mitte dem „Staatsfeind Nummer eins", wie die Chinesen Boll ebenso ehrfürchtig wie respektvoll auch nennen, erfolgreich in den Weg und verhinderte die finale und – das darf mittlerweile objektiv als angemessen gelten – verdiente Krönung des Wahl-Düsseldorfers.
In China „Staatsfeind Nummer eins"
Mitunter aber musste Boll jedoch nicht vor sportlichen Gegnern kapitulieren, sondern nur vor seinem eigenen Körper. Wie einmal mehr Ende April bei der WM in Budapest, wo Boll sich auf dem – ohne Übertreibung – allerbesten Weg zu gleich zwei Medaillen und vielleicht sogar noch mehr mit einem bakteriellen Virus infizierte, hohes Fieber bekam und deswegen vor seinem Einzel-Achtelfinale und dem Doppel-Viertelfinale (mit dem Saarbrücker Patrick Franziska) aussteigen musste. Weil Boll in Ungarns Hauptstadt einerseits in einer bestechenden Form auftrumpfte und andererseits sein(e) Weg(e) zum ganz großen Wurf durch eine Mischung aus seltenem Auslosungsglück und einer bemerkenswerten Schwäche der Chinesen geebnet schien(en), waren Bolls Chancen an der Donau so gut wie niemals zuvor – und womöglich auch niemals wieder.
„Wir hätten", haderte Jörg Roßkopf, Bundestrainer und 1989 im Doppel mit Steffen Fetzner einziger deutscher Nachkriegs-Weltmeister, „wir hätten etwas Einmaliges erreichen können." Unzählige Genesungswünsche und aufmunternde Botschaften von allen Kontinenten machten gleichzeitig deutlich: Für die Fans in aller Welt war „The Legendary" in Budapest auch und gerade ohne Medaille ein „Weltmeister der Herzen".
Boll ist ein unerreichter Meister darin, Rückschläge zu verkraften und sich immer wieder neu zu erfinden. Er ist also eigentlich schon mindestens Boll 4.0, aber eben auch schon 38 Jahre alt. Spätestens nach dem Drama von Budapest, das angesichts aller Umstände schon einer sportlichen Tragödie gleichkam, muss Boll, den erst kürzlich noch die „Süddeutsche Zeitung" in ihre Liste der zwölf größten deutschen Sportler und der Der Spiegel in eine virtuelle „Hall of fame" aufnahmen, ernsthaft ein Karriereende als Unvollendeter befürchten. Trotz drei Olympia-Medaillen, acht WM-Medaillen (sechsmal Silber), zwei Weltcupsiegen, trotz 18 EM-Titeln (Rekord), rund 20 World-Tour-Erfolgen, 13 DM-Triumphen, sechs Siegen beim Europe-Top-12/16 und, und, und.
„Es kommen ja noch ein paar Chancen "
Auch wenn Boll in den ersten Stunden nach dem unfreiwilligen Aus in Budapest „das Herz blutete", will der Topstar nicht als tragischer Held der Tischtennis-Welt abtreten und sich nicht mit einem solchen Sportlerschicksal abfinden. „Schade, dass es mich ausgerechnet bei dieser WM so plötzlich erwischt hat – die Auslosung im Doppel und Einzel war gut. Aber es kommen ja noch ein paar Chancen bei Weltmeisterschaften", teilte der gebürtige Hesse nach der Heimkehr aus Ungarn vom Krankenlager aus mit. Aus Budapest hatte sich der Linkshänder schon mit einer ähnlichen Kampfansage verabschiedet: „2021 in Houston greifen wir wieder an."
So forsche Töne entsprechen zweifellos gleichermaßen dem Ehrgeiz und Sportsgeist des Publikumslieblings, der so gar nicht vom Tischtennis lassen will und kann („Der Gedanke an ein Karriereende macht mir Angst. Ich zittere es eher herbei, als dass ich es herbeisehne. Ich spiele, solange es mir Spaß macht"), und sind auch gar nicht als eine bloße Trotzreaktion zu werten. Schon mehrere große Spieler wie früher die schwedischen Ikonen Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson oder auch der immer noch aktive Weißrusse Vladimir Samsonov konnten auch jenseits der 40 Jahre immer noch bedeutende Erfolge feiern. Mit immerhin fast 40 kam Waldner bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen zwölf Jahre nach seiner Goldmedaille in Barcelona sogar noch einmal ins Halbfinale – nach Siegen über den chinesischen Topfavoriten Ma Lin und danach auch über Boll.
Der „Mozart des Tischtennis", der bei vielen immer noch als bester Spieler aller Zeiten gilt, taugt denn auch sehr gut als Maßstab für den kaum minder mit Talent gesegneten Boll. Zumal Boll seinem empfindlichen Körper in Zeiten eines immer brutaleren Terminkalenders mehr und mehr die notwendige Beachtung und Pflege schenkt. Erst im vergangenen März verkündete der Weltranglistensiebte seinen künftigen Verzicht auf Teilnahmen an Deutschen Meisterschaften, um seine Kräfte besser einzuteilen: „Irgendwo muss ich bei diesen vielen Turnieren eine Grenze ziehen. Ich habe ja auch schon meine Trainingsumfänge stark reduziert, um meinem Körper nicht zu viel zuzumuten."
Nicht zuletzt wegen Bolls Sensibilität im Umgang mit sich selbst spricht sein für einen absoluten Spitzenprofi vergleichsweise hohes Alter aus Roßkopfs Sicht denn auch gar nicht gegen einen späten Triumph des begnadeten Ausnahmekönners. „Jemand wie Timo kann deutlich länger spielen als ein Chinese, der irgendwann ausgebrannt ist, weil er über Jahre wie ein Verrückter zwölf Stunden am Tag trainiert hat", sagte der 49-Jährige noch in Budapest zu Bolls mutmaßlichen Möglichkeiten. Roßkopf weiß, wovon er spricht, schließlich gewann Deutschlands „Mr. Tischtennis" 2004 selbst mit 35 Jahren noch einmal WM-Silber mit der deutschen Herren-Mannschaft und kennt seinen ersten Mann nur zu gut: „Timo hat noch ein paar Meisterschaften. Er denkt noch nicht ans Aufhören."
„Timo ist immer noch voller Ehrgeiz"
Vielmehr das Gegenteil soll der Fall sein, nach Budapest sogar gepaart mit einer „Jetzt erst recht"-Mentalität. „Timo ist immer noch voller Ehrgeiz, weil er sieht: Sein Spielsystem passt perfekt, er ist körperlich topfit, und er ist technisch perfekt ausgebildet. Er kann noch länger auf diesem Niveau weiterspielen", sagt Roßkopf einen neuen Versuch von Boll für einen der großen Titel voraus.
Wenn da mal nur Bolls Körper auch noch so lange mitspielt. Schon mehrfach jedenfalls verhinderten Krankheiten oder Verletzungen große Erfolge für Boll: Unvergessen ist dabei Bolls Zusammenbruch 2005 nach der Niederlage im WM-Doppelfinale mit Christian Süß, nachdem die deutsche Nummer eins in der Nacht vor dem Endspiel ebenfalls eine Fieberattacke erlitten hatte. Außer wiederkehrenden Muskelproblemen am Rücken und an der Schulter ist auch noch seine Aufgabe im EM-Halbfinale 2016 ebenfalls in Budapest wegen Nackenproblemen, die Wochen zuvor beim Olympia-Turnier in Rio de Janeiro das deutsche Team fast die Bronzemedaille gekostet hatten, in Erinnerung. Viel Platz in Bolls schon recht dicker Krankenakte nimmt auch eine Knieoperation aus dem Herbst 2015 ein: „Damals", blickt Boll zurück, „hatte ich wirklich befürchtet, nicht mehr zurückkommen zu können und aufhören zu müssen."
Doch wieder einmal kam Boll zurück – und schien stärker denn je. Gut vorstellbar, dass Budapest für Boll eben doch noch nicht das letzte Wort bei einer WM war.