Der Arzt und Spiegel-Bestseller-Autor Dr. med. Gerd Reuther arbeitet seit 30 Jahren als Radiologe. Im Interview spricht er unter anderem über Faktoren, die lange und kurze Leben begünstigen, das Risiko von Übergewicht und die Gefahr von synthetischen Nahrungssubstanzen.
Herr Dr. Reuther, haben Menschen, die 100 Jahre alt werden, eine bessere genetische Ausstattung als andere, die viel früher sterben?
Die genetische Information, die wir mit auf die Welt bringen, steckt den Rahmen für die Dauer unseres Lebens ab. Allerdings bleibt diese Information bis zu unserem Lebensende nicht unverändert, sondern wird durch unsere Ernährung, unsere Atemluft und unsere Sinneswahrnehmungen ständig modifiziert. Man kann dies daran erkennen, dass eineiige Zwillinge, die in der frühen Kindheit voneinander getrennt werden, am Ende des Lebens längst nicht mehr zum Verwechseln ähnlich sind und auch unterschiedlich alt werden. Männer und Frauen, die aus Familien stammen, in denen man früh stirbt, werden vier bis fünf Jahre älter als ihre direkten Verwandten, wenn sie in Familien mit hoher Lebenserwartung einheiraten. Dieser Zeitraum entspricht wohl dem Spielraum, den unsere Lebensweise ermöglicht.
Welche Faktoren können die Lebenserwartung denn noch positiv beeinflussen?
Die Lebensführung ist für die Dauer des Lebens die maßgebliche Stellschraube, an der wir drehen können. Es gilt wie früher, dass eine Unze Prävention mehr wert ist als ein Pfund Behandlung. Die „Bauartzulassung" für die Spezies Mensch beinhaltet viel körperliche Aktivität an der frischen Luft, Nahrungsvielfalt bei Nahrungsknappheit, geregelte Beziehungen in einer geschützten Gruppe und die Vermeidung von Reizüberflutungen. Wenn wir gegen diese evolutionär für unsere Biologie optimalen Bedingungen verstoßen, steigt unser Risiko für Krankheiten und wir verkürzen unser Leben.
Warum können eine größere Nahrungsaufnahme als nötig, Fleisch und Übergewicht Krankheiten und ein frühes Ableben begünstigen?
Nehmen wir mehr Energie durch Nahrung auf als wir brauchen, müssen wir die Energie in Form von Depotfettgewebe speichern. Das bedeutet unnötigen Ballast, der die Herzleistung beansprucht. Nach jeder Mahlzeit steigt ohnehin unsere Herzfrequenz durch die Verdauungsarbeit. Sollte die maximale Schlagzahl unseres Herzens in unserer genetischen Ausstattung vorgegeben sein, verkürzt unnötiger Nahrungskonsum zwingend unsere Lebenszeit. Außerdem verändern sich bei Übergewicht die Informationswege unserer inneren Botenstoffe. Dabei kann es zu ungünstigen Konstellationen kommen. Zahlreiche Krankheiten, zum Beispiel auch Krebs, werden durch Übergewicht begünstigt und manche Krankheiten wie bestimmte Entzündungen des Dickdarms gibt es fast ausschließlich bei Übergewicht.
Wie ist es zu erklären, dass Fasten Krankheiten verbessern kann?
Nahrungsknappheit ist in der Evolution des Menschen bis in unsere Zeit für die große Mehrzahl der Menschen die maßgebliche Existenzbedingung gewesen. Unsere biologische Ausstattung ist daraufhin optimiert. Nahrungsüberangebote bedeuten umgekehrt Stress. Wenn wir heute durch eine mehrtägige Nahrungskarenz oder das sogenannte Intervallfasten Hungerbedingungen zeitlich befristet herstellen, schicken wir unseren Körper auf Erholungsurlaub. Unser Körper triggert das selbst: Wer krank ist, dem vergeht erst einmal der Appetit, und dessen Wiederkehr ist schon immer ein Zeichen der Heilung gewesen. Wenn Krebskranke Gewicht verlieren, ist das auch als Heilungsversuch des Körpers zu interpretieren. Es gibt eigentlich keine Krankheit, die nicht von einem zeitweiligen Nahrungsentzug positiv beeinflusst wird.
Warum werden Menschen, die in Sardinien leben, älter als wir? Was machen sie anders – sind sie zum Beispiel entspannter?
Sardinien ist ländlicher, und damit lebt es sich sicherlich geruhsamer und mit weniger Umweltverschmutzung als in großen Städten. Neben einer günstigen genetischen Selektion der Bewohner durch Infektionsepidemien wie der jahrhundertelang grassierenden Malaria spielt aber sicher eine Rolle, dass sich die Menschen dort bis heute regionaler mit weniger industriell verarbeiteten Produkten und mehr aus eigenem Anbau ernähren. Es sind nicht Olivenöl und Gemüse, die so gesund sind, sondern dass diese Produkte ebenso wie das Fleisch und der Fisch, die auch gegessen werden, häufiger regional frisch auf den Tisch kommen. Und dann verbringen die Menschen dort einfach viel mehr Zeit außerhalb von geschlossenen Räumen in der Natur.
Welche Rolle spielt die psychische Gesundheit für die körperliche?
So wie die meisten Menschen bei Krankheit eine depressive Verstimmung zeigen, erhöhen seelische Beeinträchtigungen die Risiken für verschiedenste körperliche Leiden. 40 Prozent der Rückenschmerzen sind psychosomatisch bedingt. Die heute in der Medizin immer noch gängige Trennung von Körper und Psyche verkennt unsere Biologie. Menschliche Zuwendung – sogenanntes Bonding – ist bei kindlichen Infektionskrankheiten oft wichtiger als Antibiotika.
Die meisten Menschen sterben nicht an Altersschwäche, sondern an furchtbaren Erkrankungen wie Krebs. Kann man hier überhaupt beeinflussen, dass es einen nicht trifft?
Wenn man Verstorbene obduziert, findet man immer eine Krankheit als Ursache für das Ableben. Wir können keine Erkrankung durch unsere Lebensweise sicher ausschließen, aber wir können viele Krankheiten unwahrscheinlich machen – nicht nur durch den Verzicht auf Suchtmittel. Unfälle werden seltener unser Leben beenden, wenn wir uns immer aufmerksam und vorausschauend verhalten. Wer viel bei körperlicher Bewegung an der frischen Luft ist und reichlich Obst und Gemüse isst, wird nur selten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen sein. Wer auf medizinische Behandlungen meist verzichtet, stirbt nicht an deren unerwünschten Wirkungen. Die häufigste Todesursache von Menschen jenseits der 80 sind nicht Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Krebs, sondern Lungenentzündungen, Stürze und Behandlungsfolgen.
Angeblich gibt es in China keinen Brustkrebs. Wie lässt sich das erklären?
Brustkrebs ist eine Erkrankung der Industrieländer. Bei allen Naturvölkern wie früher in China und Japan war Brustkrebs unbekannt. Auch heute sind die Häufigkeiten immer noch weit geringer als in den Industrieländern. Wenn Frauen von dort zu uns migrieren, gleicht sich deren Risiko innerhalb einer Generation unserer Erkrankungshäufigkeit an. Dies zeigt, dass die Ursachen für Krebs weniger in den Genen, sondern vornehmlich in Umwelt und Lebensstil zu suchen sind. Als wesentlicher Begünstigungsfaktor für Brustkrebs muss die Belastung mit weiblichen Geschlechtshormonen durch Empfängnisverhütung und die sogenannte Hormonersatztherapie bei älteren Frauen gelten. Leider ist durch diese Hormongaben, die über den Urin ausgeschieden werden und in die Umwelt gelangen, die Hormonbelastung für alle Menschen über die Nahrung und das Wasser gestiegen. Es gibt kaum mehr Gegenden auf der Welt, in denen keine vermehrte Aufnahme weiblicher Geschlechtshormone besteht.
Welche sind die häufigsten Todesursachen?
Die häufigste Todesursache sind heute medizinische Behandlungen. Jeder Dritte stirbt daran. Ein Viertel der Todesfälle resultiert aus der Aufnahme von Umweltgiften. Die gleiche Größenordnung stirbt an den Folgen von Suchtmitteln und an einem Lebensstil, der unserer Biologie widerspricht.
Sie sagen, die Medizin verursache mehr Schäden als Erfolgsgeschichten. Können Sie Beispiele geben?
Wenn durch Medizin die Menschen bei uns länger leben würden, hätte die Zahl der Sterbefälle pro Jahr sinken müssen. Es sterben aber heute bei weitgehend gleicher Bevölkerungszahl nicht weniger Menschen als 1990. Die Zahl der Krankheitstage und Berentungen hat trotz einer Milliarde Behandlungen pro Jahr in Deutschland ebenfalls nicht abgenommen. Die Überlebenszeiten bei Krebserkrankungen sind maßgeblich auch dadurch angestiegen, dass die Erkrankungen früher diagnostiziert und auch Erkrankungen mit Entartungspotenzial (zum Beispiel das Carcinoma in situ beim Brustkrebs) als Krebs gezählt werden. Blutdrucksenker reduzieren zwar die Häufigkeit von Schlaganfällen und Herzinfarkten, erhöhen aber insgesamt die Sterblichkeit durch Elektrolytstörungen, Nierenversagen und Stürze.
Welche Medikamente beziehungsweise Wechselwirkungen können besonders zu einem frühen Ableben beitragen?
Schmerzmittel vom Typ des Ibuprofen oder Diclofenac sind die am häufigsten konsumierten Präparate, obwohl sie das Risiko für einen Herzinfarkt um 50 Prozent schon im ersten Monat der Einnahme erhöhen. Blutdrucksenker erhöhen das Sturzrisiko um 40 Prozent. Und Stürze gehören bei Menschen über 70 zu den häufigsten Todesursachen. Vor allem auch, weil viele der Betroffenen noch Mittel einnehmen, die die Blutgerinnung vermindern und damit tödlichen Blutungen Vorschub leisten. Und dann sind da noch die ganzen Psychopharmaka, die nicht nur Abhängigkeiten erzeugen und das Gehirn schädigen, sondern bei längerer Einnahme auch die inneren Organe.
Sind die Zahlen aus Ihrem Buch – zum Beispiel dass etwa durch Antipsychotika ein dreifaches Risiko für plötzliche Todesfälle durch Herzversagen besteht – durch Studien belegt?
Ja, all diese Aussagen beruhen auf wissenschaftlich belastbaren Studien, die leider von vielen Ärzten und der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen werden. Was nicht sein darf, das nicht sein kann.
Warum ist auch eine Zufuhr synthetischer Nahrungssubstanzen gefährlich?
Synthetische Nahrungsergänzungen sind nicht mit ihren natürlichen Gegenstücken gleichzusetzen, da sie aus anderen Produkten gewonnen und in einer anderen chemischen Umgebung angeboten werden. Daher kenne ich keine einzige Studie, die wissenschaftlich belastbar den Nutzen von künstlich zugeführten Vitaminen, Spurenelementen oder anderen biologisch aktiven Molekülen belegt hätte. Im Gegenteil, die Chromosomenschäden durch die erhöhte kosmische Strahlung bei Flugpersonal werden nur dann geringer, wenn sie Obst und Gemüse essen, nicht aber wenn sie Nahrungsergänzungspräparate einnehmen. Unser Körper extrahiert sich die notwendige Menge aus der Nahrung und stellt die Substanzen zum Teil selbst her. Führen wir mehr zu als gebraucht wird, scheiden wir die Substanzen ungenützt aus oder müssen sie im Körper speichern beziehungsweise entsorgen. Letzteres kann Probleme verursachen wie zum Beispiel das Auftreten von Nierensteinen bei hoher Zufuhr von Vitamin D. Einen wirklichen Mangel dieses Hormons, das fälschlicherweise als Vitamin bezeichnet wird, gibt es nur sehr selten, da wir die Substanz im Körper selbst herstellen.
Sie schreiben, dass einige Krankheiten durch andere verhindert werden können. Welche? Und wie ist das wissenschaftlich zu erklären?
Es ist seit Langem bekannt, dass Erkrankungen, die Hauterscheinungen verursachen und damit äußerlich sichtbar sind, innere Organe öfter verschonen. Bei Menschen mit rheumatischen Erkrankungen tritt nur sehr selten Krebs auf, solange sie keine Medikamente einnehmen, die das Immunsystem unterdrücken. Allergische Erkrankungen bessern sich oder können sogar verschwinden, wenn man einen Darmparasiten hat.
Mit den wissenschaftlichen Erklärungen stecken wir heute noch in den Kinderschuhen, da wir von der Mehrzahl der Erkrankungen weder die Ursachen, noch deren Verlauf hinreichend verstehen. Ursächlich sind wahrscheinlich Veränderungen der Signalwege in unserem Immunsystem, die durch eine Krankheit eintreten und dabei andere Krankheitsmechanismen verhindern.
Wie wird man 100 Jahre alt? Welche Tipps haben Sie? Worauf kommt es wirklich an?
Man sollte natürlich gezeugt werden, ohne Kaiserschnitt zur Welt kommen, eine altmodische Kindheit mit viel Naturkontakt und wenig oder keinen Impfungen haben. Im weiteren Leben immer viel Bewegung an frischer Luft, den größeren Teil des Essens aus frisch gekochten Zutaten zu sich nehmen und bei Krankheit erst einmal abwarten statt eine Behandlung zu starten. Am Ende des Lebens sollte man unbedingt in den eigenen vier Wänden bleiben, um die Halbierung der verbleibenden Lebenszeit durch den Übertritt in ein Alten- oder Pflegeheim zu verhindern.