Ungemein spendabel auf Kosten anderer, großzügig bis an den Atlantik und glamourös-heimelig: Beim Blick zurück bekommt die verschwundene Insel West-Berlin einen leichten Goldschimmer an den Rändern.
Selbstverständnis eines Westberliners, geboren Mitte der 60er-Jahre: Wir alle, wir Berliner, haben nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs als Trümmerfrau die Stadt aufgebaut und die Blockade mitgemacht; in den 50ern die Repressalien der Sowjets durch- und dann ’61 auch den Mauerbau überstanden; und kämpfen jetzt in der Frontstadt gegen …? – Ja, das weiß heute eigentlich niemand mehr so genau.
Darauf kam es aber auch gar nicht an in West-Berlin. Das ist wichtig, die Schreibweise: Zwei Wörter, groß, mit Bindestrich. Die orthografische war gleichzeitig eine geografische Verortung. Denn „die Drüben" schrieben allen Ernstes: Westberlin. Drüben, das war im Osten. Das ist jetzt nicht geografisch gemeint, denn Osten war aus West-Berliner Innensicht überall, im Norden, Süden, auch im Westen – und eben im Osten. Bei den Kommunisten. Daraus ergab sich eine sehr gesunde Weltsicht. Wir auf der Insel West-Berlin: die Guten. Um uns herum: der Feind. Und dann gab es noch … genau, Westdeutschland. Aus West-Berliner Sicht ein Rumpfstaat, der sich irgendwo jenseits der Elbe von der Nordsee bis zu den Alpen und gefühlt auch gern mal bis zum Atlantik zog. Da waren wir großzügig.
Ganz klare Weltsicht: Wir waren die Guten
Westdeutschland, genauer Bonn, hatte eigentlich auch nur eine Aufgabe: Die Freiheit von West-Berlin zu garantieren. Durch Geld. Viel Geld. Für die Frontstadt. Ein Quadratmeter Sozialwohnung kostete beim Bau gern mal das Fünffache im Vergleich zu westdeutschen Städten. Und da zeigte sich auch schon der Denkfehler: Es gab keine vergleichbaren westdeutschen Städte – West-Berlin war einmalig auf der Welt, das kostete halt. Wenn mal jemand in Bonn nachgehakt hat, was wir bitte schön mit all dem Geld machen würden, war politisch der Teufel los. „Kleinliche Vaterlandsverräter!" schimpfte da Heinrich Lummer, CDU-Frontstadt-Soldat in Bonn. Bei West-Berlin durfte man doch nicht fragen, was das alles kostet! West-Berlin hatte schließlich keine Sperrstunde, sondern „24 Stunden geöffnet". Unerhörte Frage.
Ebenso speziell war das Wirtschaftsmodell der Mauerstadt: Hatte ein guter Unternehmer mit vielen Subventionen (aus Bonn) eine Unternehmung unternommen, war die nach genau zwei Jahren pleite. Dummerweise war dann nämlich die Steuerabschreibung ausgelaufen. Der West-Berliner Wirtschaftssenator und Regierende Bürgermeister sprach dann in Bonn vor: „Dem Unternehmen muss geholfen werden: Arbeitsplätze in Gefahr!" Das Totschlagargument. Hilfe kam.
Der ehemalige „Regierende" Eberhardt Diepgen hat mal eingeräumt, dass West-Berlins Hauptaufgabe tatsächlich die eines „Schaufensters der Demokratie" mitten im Osten war. Dazu gehörte auch eine nie endende Party, nicht nur den Ku’damm mit Rolf Eden rauf und runter. Bei der Grünen Woche staunte der West-Berliner, dass aus Kühen tatsächlich Milch kam. Die Filmfestspiele ließen den Rest der Welt am West-Berliner Glamour teilhaben. Und auf der Tourismusbörse war man angetan, dass auch außerhalb von West-Berlin noch irgendwo die Sonne scheint. Herbe Überraschungen, und das gleich mehrfach, warteten allerdings bei der Deutschen Damen-Tennismeisterschaft: Die „Westdeutsche" Steffi Graf konnte besser spielen als die lokale Größe aus dem Grunewald! Schwamm drüber – bei der Wahl der Miss Deutsch-Amerikanisches Volksfest war der Ärger schnell wieder vergessen. Weltweite Fernsehereignisse wie „Die drei Damen vom Grill" oder die „Koblanks" waren nur in West-Berlin möglich: Eingemauert und gemütlich, weltoffen und doch heimatlich, und vor allem: spendabel auf Kosten anderer. „Was war dit für ’ne schöne Zeit, die wa da durchjemacht ham!"