Herausforderungen auf der kommunalen Ebene sind keine Mangelware. Die Arbeitskammer hat die Situation in Wirtschaft, Bildung und Verkehr analysiert. Hauptgeschäftsführer Thomas Otto über Rahmenbedingungen, Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven.
Herr Otto, im Saarland ist der Saarlandpakt auf den Weg gebracht, das Land hat ab 2020 mit dem neuen Finanzausgleich neue Spielräume, aus Berlin gibt es Signale, dass die Saar-Kommunen mit Hilfen rechnen können, ist da die große Rettung in Sicht?
Ganz sicher nicht. Die angespannte Situation, die sich über Jahrzehnte Strukturwandel kumuliert hat, wird nicht durch Einzelmaßnahmen zu bewältigen sein. Wir brauchen nachhaltige Strukturveränderung. Natürlich brauchen wir den Saarlandpakt, wir brauchen konkrete Entlastungen, wir brauchen aber auch, was die Bürgermeister in Berlin gefordert haben, eine wie auch immer geartete Altschuldenregelung und die Anerkennung unserer besonderen Situation im Strukturwandel. Da kann die Kohlekommission nur ein Bestandteil sein, wenn wir dort ordentlich berücksichtigt werden sollten. Dazu gehört auch die jüngste Debatte in der Politik über die Schuldenbremse mit Positionen, die wir als Arbeitskammer schon 2013 vertreten haben. Natürlich muss man ordentlich wirtschaften, aber dort, wo in die Zukunft investiert werden muss, ist die Schuldenbremse in der rigiden Form sehr schwierig. Ein Beispiel: So günstig wie heute werden wir nie wieder einen Kanal reparieren können. Heute kostet Geld keine Zinsen. Wenn wir den Kanal in fünf Jahren reparieren, wird das doppelt so teuer. Rein ökonomisch ist es also sinnvoll, heute zu investieren. Ich sehe es etwas anders als manch konservativer Politiker, der argumentiert, wir müssten heute sparen, um keine Schulden zu hinterlassen. Keine Schulden, dafür aber ein marodes Gemeinwesen, das ist aus meiner Sicht für die nächste Generation die schlechtere Variante. Die hat verdient, dass sie eine ordentliche Infrastruktur und ordentliche Rahmenbedingen hat, und dafür sind wir heute verantwortlich. Das wäre für mich der vierte Baustein für die Kommunen: neben Saarlandpakt, Altschuldenregelung und Strukturhilfen die Investitionen aus der Schuldenbremse rausnehmen.
Die Arbeitskammer hat die kommunale Situation in den AK-Kreisreports analysiert. Was sind aus Ihrer Sicht die Themen, neben der Finanzsituation, die im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen eine Rolle spielen?
Zunächst einmal zeigen alle sechs Kreisreports: Kommunalpolitik ist etwas Spannendes und vor allem konkret. Wir haben deshalb für die Reports die Themen betrachtet, die uns jeden Tag angehen: Arbeitsmarkt, Wirtschaftsförderung, frühkindliche Bildung, ÖPNV. Grundsätzlich sehen wir, dass das Saarland in seiner jetzigen kommunalen Struktur eine ordentliche, vernünftige Aufteilung hat. Wir haben ein sehr heterogenes Land, in jedem Landkreis gibt es andere Themen, an denen gearbeitet werden muss. Ein übergreifendes Thema ist der ÖPNV. Auch der ist sehr heterogen in Teilen recht gut, in anderen könnte er eine größere Rolle spielen. Da hatten wir vor Ort schnell die Diskussion vonseiten der Kreisverwaltung: Wollt ihr mehr ÖPNV oder mehr Kindergärten? Die Frage zeigt aber genau, dass eine Schuldenbremse, die Investitionen einschränkt, nichts mit gleichwertigen Lebensverhältnissen zu tun hat. Eine Region wie Bayern oder Baden-Württemberg muss sich die Frage mit einem „oder" erst gar nicht stellen. Und wenn wir nur das eine angehen können, weil nicht mehr Geld für Investitionen da ist, ist noch nicht einmal raus, ob das dann auch reichen wird. Es ging uns deshalb bei der Analyse auch nicht darum, ob ein Landrat, eine Landrätin etwas nicht gemacht hat, sondern wie die Entwicklung vor dem Hintergrund der bestehenden Limits und unterschiedlichen Priorisierungen verlaufen ist. Und dabei haben wir auch viel Tolles gesehen.
Zum Strukturwandel hören wir unterschiedliche Meldungen. Ford streicht wohl 1.600 Stellen, ZF erhält einen Großauftrag, es gab den Spatenstich für die Ansiedlung von Nobilia. Wo geht die Reise hin?
Ich glaube, es gibt nicht DIE Antwort. Ich glaube, wir müssen auch nicht die eine Antwort suchen, sondern müssen unser Ziel beschreiben. Wir haben einen Strukturwandel im Automotiv-Cluster, von dem wir abhängig sind. Das ist nichts, was das Saarland alleine trifft. Das ist Teil eines Veränderungsprozesses, in dem man noch einmal eine neue Marke setzen muss. Im Vergleich zu den Strukturwandeln in der Vergangenheit haben wir eine neue Dimension. Es gibt den klassischen Strukturwandel, den wir aus der Konjunkturlehre kennen, wir haben jetzt mit der Digitalisierung eine neue industrielle Revolution. Das kann zu einer Verstärkung der Brüche führen, es kann aber auch eine Chance sein. Es geht um die Frage, wie können wir das, was wir haben, nicht bewahren, sondern transformieren und parallel fragen, was ist die Wirtschaft von morgen. Wir haben den Automotiv-Strang, der überwiegend mittelständisch geprägt ist. Die Erfahrung ist, dass der Mittelstand hochflexibel ist. Wir haben den Anspruch, dass dabei die Arbeitnehmer beteiligt werden. Dann sehe ich auch Chancen. Wir haben Erfahrungen mit Strukturwandel, man könnte auch sagen: Wir können Krise. Wir müssen jetzt, wo noch Dinge gestaltbar sind, diese auch gestalten. Das können wir teilweise aus eigener Kraft, wir brauchen aber auch Hilfe vom Bund.
Im Zusammenhang mit Strukturwandel wird gern auf das neue Helmholtz/Cispa-Zentrum als Leuchtturm verwiesen.
Ich mach mir das nicht ganz so einfach wie die Landesregierung. Die Menschen, die dort arbeiten werden, sind nicht die, die bei Ford gehen müssen. Und bei etwa 800 Mitarbeitern bei Helmholtz, die in den nächsten zehn Jahren aufgebaut werden, zeigt das die Dimension. Für den Strukturwandel ist das nicht schlecht, es zieht weitere Ansiedlungen und Arbeitsplätze an. So erfreulich die Entwicklung ist, insgesamt heißt es das: Nicht zurücklehnen, sondern noch mehr tun.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ist mit seiner Industriestrategie auf viel Kritik gestoßen. Teilen Sie die Kritik?
Ich weiß nicht, ob ich die Kritik teile, aber wir haben schon auch Kritik an der industriepolitischen Strategie von Peter Altmaier. Das geht uns zu sehr in das Bewahren und Beschützen von größeren Strukturen. Da haben wir uns mehr erwartet. Da haben wir als Arbeitskammer andere Ideen von Industriepolitik.
Die Industrie- und Handelskammer hat zum Jahresbeginn noch einmal eine Reihe von Ideen zur Entwicklung vorgestellt. Viel diskutiert war das Thema Stadtmitte am Fluss und Autobahntunnel. Wie bewerten Sie die Vorschläge?
Vorweg vielleicht. Zum Jahreswechsel hatten wir als Arbeitskammer gesagt: Wir haben Herausforderungen, es gibt Brüche. Wir müssen etwas tun. Die Industrie- und Handelskammer hatte eine etwas andere Einschätzung. Inzwischen sehen wir, dass die IHK ihre Prognosen regelmäßig nach unten korrigieren muss. Konkret zum Vorschlag Stadtmitte am Fluss. Das Beispiel war vielleicht etwas unglücklich gewählt, wenn damit aber der Appell gemeint war: Scheut Euch nicht, Leitinvestitionen zu machen, einen Schritt nach vorne zu gehen, dann teile ich das uneingeschränkt. Man muss regionalpolitisch, strukturpolitisch, industriepolitisch etwas tun, wenn wir die Region entwickeln wollen. Und damit sind wir wieder bei der Schuldenbremse. Im Moment herrscht so der Eindruck, wir müssen dieses Jahr noch durchhalten, und ab übernächstem Jahr haben wir das Paradies. Das glaube ich nicht. Es ist schön, dass wir dann mehr Spielräume haben. So schön 200 Millionen mehr im Haushalt auch sind: „Wir brauchen ein gesamtes Paket, mit Altschuldenregelung und den anderen angesprochenen Dingen auf dem Weg zu gleichwertigen Lebensverhältnissen. Was Heino Klingen (Anm. d. Red. Hauptgeschäftsführer IHK) sicherlich sagen wollte ist, dass wir mehr Mut haben müssen, nicht nur hinterherlaufen und aufpassen, dass man nicht zu weit hintendran bleibt, sondern vorangehen. Das sehen wir auch so.
Damit ist die Diskussion um die Gewichtungen neu entbrannt, nämlich die Frage, Fokussierung auf Stärkung des Oberzentrums durch Leitinvestitionen, oder eine gleichmäßigere Entwicklung unter Berücksichtigung ländlicher Regionen?
Ich würde in der Antwort gerne auf das „oder" verzichten. Ich glaube, wir müssen das Oberzentrum entwickeln. Aber wir haben eine zweite Stärke, die oft vernachlässigt wird, für mich aber beispielsweise eine ausdrückliche WohnortÂentscheidung war. Wir haben im Saarland etwas, das es in anderen Regionen so nicht gibt: Wir leben in einem Umkreis von 20 Minuten Mobilität – vom Land zum nächsten Mittelzentrum und in die Oberstadt – gleich ob Auto, Bus, Bahn oder eingeschränkt auch Fahrrad. Und wir haben noch sehr intakte Dörfer und Kleinstädte, dann einen Steinwurf weit das nächste Mittelzentrum, und ein nahe gelegenes Oberzentrum. Wir können uns im Saarland also in allen drei kommunalpolitischen Ebenen bewegen, wohnen, leben, arbeiten, einkaufen. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal in der Republik. Und wir haben ein Oberzentrum, das positiv-kritisch gesehen mit seinen 180.000 Einwohnern für das Saarland mit noch über 900.000 Einwohner eigentlich viel zu groß ist. Das ist aber auch so, weil Saarbrücken im Herzen der Großregion ist. Ein Drittel der Kaufkraft in der Stadt ist französisch. Da kommen wir zum nächsten Punkt: Wir haben keine Grenzen mehr, dafür einen gemeinsamen Kulturraum, Freizeitmöglichkeiten. Darauf können wir stolz sein, und deshalb passt das „oder" nicht in die Frage. Das würde die Relationen verschieben, Deshalb mag ich diese Oder-Situation nicht.
Das bringt aber auch Herausforderungen. Das Thema ÖPNV zieht sich in den Kommunalwahldiskussionen quer durchs Land. Was sagen die Kreisreports der Arbeitskammer?
Also insgesamt ist der ÖPNV besser als sein Ruf. Was man sicher in Frage stellen muss, ist die Kleinteiligkeit. Braucht man in so einem kleinen Land so viele Unternehmen? Die Konsequenz daraus ist ja das Wabensystem, daran wird gearbeitet. Und die Grenzen zwischen den Unternehmen sind nicht optimal vernetzt. Insgesamt gilt sicher, dass wir für die Größe des Landes und die Möglichkeiten ein relativ gutes Rückgrat haben, aber klar: Es kann besser werden. Damit sind wir wieder bei den Themen, über die wir anfangs gesprochen haben.
Am 26. Mai stehen nicht nur die Weichenstellungen für die Kommunen an, sondern auch für Europa einiges auf dem Spiel. Von großer Euphorie ist wenig zu spüren?
Mit Euphorie ist das so eine Sache. Wir versuchen im Rahmen unserer Möglichkeiten, für Europa und die Wahl zu motivieren. Wir haben uns der „Allianz für Europa" angeschlossen, da machen mittlerweile etwa 32 Verbände mit, die für eine Teilnahme an der Wahl werben. Wir haben unsere Thesen zur Europawahl, und es gibt unsere AK-Kampagne unter dem Motto: „Du bist Europa", die wir vor allem über unsere Facebook-Seite und über unseren Instagram-Account bespielen, die aber auch in eine Ausstellung münden wird. Der Tenor der Kampagne: Jeder erlebt gerade hier in der Großregion Europa im Alltag, in den verschiedenen Facetten. Es geht bei dieser Wahl auch darum, dass wir die EU mit allen Vorteilen und auch bei allem Makel nicht zurückfahren. Natürlich haben wir Kritikpunkte, sind mit vielem nicht zufrieden. Wir brauchen zum Beispiel eine andere Steuerpolitik in Europa. Es kann nicht sein, dass Amazon und Co nichts zum Gemeinwohl beitragen. Das ist übrigens wieder ein Teil einer Oder-Frage, wie wir sie vorher schon hatten. Eine gemeinsame Besteuerung würde zu mehr gemeinschaftlichem Wohlstand führen. Wir brauchen auch eine andere Arbeitsmarktpolitik, also ein Wirtschafts- und Sozialeuropa.
Sind das nicht Forderungen, die man eher an die nationalen Regierungen richten müsste, die das im Rat (der Regierungschefs) durchsetzen müssten?
Das ist an Politik allgemein gerichtet. Am Ende sitzt ja in Brüssel nicht irgendein Fremder, den keiner kennt. Politik beginnt in den Kommunen, geht über Kreise, Land, Bund bis Europa. Und auf jeder Ebene muss jedem klar sein: Wir brauchen dieses Europa. Europa geht im Grunde über den Bauch, trotzdem müssen wir es auch im Kopf verstehen.