Maya Matthiesen aus Lauterbach hat die seltene Krankheit MPAN. Eine Heilung gibt es noch nicht, die Prognose ist schlecht. Ihre Eltern versuchen alles, um Geld für die Forschung zu sammeln.
Alles fing an, als Maya im Alter von acht Jahren plötzlich damit begann, auf den Zehenspitzen zu gehen. Eine Warze auf den Fußballen tat ihr weh. Doch als die Warze weg war, war der Zehenspitzenlauf immer noch da. Mehrere Jahre ging das so und irgendwann machte sich ihre Mutter Stephanie Matthiesen Sorgen – es begann eine Odyssee, um herauszufinden, was Maya fehlte. „Der Arzt stellte irgendwann fest, dass Maya gern mit dem Po auf den Füßen saß und dass sich ihre Hüfte verschoben hatte", erzählt sie. Die nächste Vermutung: Ein Klumpfuß. Also ging die Familie zum Orthopäden. Der aber stellte fest, dass aus seiner Sicht alles in Ordnung sei. „Es musste also irgendetwas mit den Nerven zu tun haben", sagt Stephanie Matthiesen. Im Muskeltonus-Test mit dem Hämmerchen ging Mayas Bein verdächtig stark nach oben. Ein viel zu hoher Muskeltonus, der die Sache langsam unheimlich machte. Die Odyssee führte das Mädchen als nächstes in die Uniklinik. Dort stellten die Ärzte fest, dass Maya eine sehr verlangsamte Leitgeschwindigkeit der Nerven hat. „Sie braucht sehr lang für verschiedene Dinge", sagt ihr Vater Sebastian. Die verlangsamte Reaktion ließ die Alarmglocken läuten. Man vermutete eine Krankheit wie ALS. Es wurde immer schlimmer für die Familie, die nun Monate auf die Ergebnisse eines Bluttests warten musste. Im Juni 2018 dann die Gewissheit: Eine Stoffwechselkrankheit wie ALS oder Multiple Sklerose lag bei Maya nicht vor. „Wir haben sie dann auf einen Gendeffekt hin untersuchen lassen", erzählt Sebastian Matthiesen. Diesmal gab es einen Treffer bei der Diagnostik. Die untersuchende Ärztin fand bei einem MRT-Bild von Mayas Gehirn Ablagerungen – das Rätsel war gelöst. Maya hat MPAN, eine sehr seltene, derzeit unheilbare und aggressiv fortschreitende neurologische Krankheit. Sie bedeutet den zunehmenden Verlust von Nervenzellen. Zwei unterschiedliche Gen-Defekte auf dem Chromosom 19 führen dazu. „Den einen Teil hat mein Mann vererbt, den anderen ich. Wenn man nur einen Defekt auf dem Chromosom hat und der gesunde Teil es ausgleicht, hat man keine Beschwerden", erzählt Stephanie Matthiesen.
Stark verlangsamte Reaktionen
Für die lebenslustige Maya sorgt die Krankheit seit Langem für viele Einschränkungen. „Ich wurde in der Grundschule sehr oft gemobbt, weil da noch nicht klar war, was ich hatte", erzählt sie sehr deutlich, aber langsam. Jedes einzelne Wort scheint bei ihr einen längeren Weg vom Gehirn über die Lippen zu brauchen. Ein klassisches Zeichen ihrer Krankheit, dennoch will sie sich davon nicht unterkriegen lassen: „Wenn ich es damals schon gewusst hätte, hätte ich bestimmt gesagt: ich habe eine Krankheit und ich kann dafür nichts. Aber in meiner neuen Schule ist es schön, dass meine Mitschüler mich akzeptieren, wie ich bin", sagt sie. Inzwischen besucht sie die sechste Klasse auf dem Warndt-Gymnasium in Völklingen. In der Schule bekommt sie so gut es geht Hilfe und Ausnahmen. „Ich habe heute eine Englischarbeit geschrieben, und ich darf bei Klassenarbeiten länger schreiben", sagt sie und lächelt. „Sie braucht eben mehr Zeit", sagt ihr Vater und zitiert Mayas Klassenlehrerin: „Sie sagt, Maya muss immer um die Krankheit herumdenken." Eine Vorstellung, die die Krankheit gut beschreibt. Von der Hausaufgabentafel darf Maya deshalb immer ein Foto machen. „Es gab schon mal eine Zeit im ersten Halbjahr der sechsten Klasse, da hatte sie die Hausaufgaben nie aufgeschrieben oder nur zum Teil. Mittlerweile ist das besser", sagt ihr Vater.
MPAN, also Mitochondrien-Membran-Protein-assoziierte Neurodegeneration, ist eine Untergruppe der Krankheit NBIA, eine neurodegenerative Eisenspeicherkrankheit im Gehirn. Das bedeutet, dass sich Eisen im Gehirn ablagert. Zwar benötigt das Gehirn Eisen, um zu funktionieren. Bei Maya kann das Gehirn aber nicht richtig mit dem Stoff umgehen. Das stört die Motorik. Mayas Wortschatz ist sehr ausgefeilt, doch sie kriegt die Worte nicht so schnell wie andere über die Lippen. Die Krankheit ist extrem selten. Pro eine Million Menschen gibt es nur einen bis drei betroffene. Und die Prognosen sind äußerst schlecht. „Wie schnell die Krankheit voranschreitet, kann man nicht sagen. Aber dass sie voranschreitet, weiß man sicher", sagt Stephanie Matthiesen. Die Verläufe sind bei vielen Patienten unterschiedlich. Manche haben die Schule nicht geschafft, anderen geht es im Alter von Mitte 20 noch gut. In den Vereinigten Staaten lebt eine 38-jährige Frau mit der Krankheit. Doch allen MPAN-Patienten droht irgendwann der Verlust der motorischen Fähigkeiten. Die Sehkraft lässt nach bis hin zur Erblindung, es gibt kognitive Verluste. Hinzu kommen fortschreitende Krämpfe und Spasmen, Bewegungsstörungen, Parkinsonismus, Sprechstörungen, ausgeprägte psychiatrische Symptomatik, Inkontinenz bis hin zum frühzeitigen Tod – all das droht Maya in den kommenden Jahren. „Sie wird ihre ganze Selbstständigkeit verlieren, wenn sich die Krankheit nicht aufhalten lässt", sagt Vater Sebastian. Was das defekte Gen verursacht, weiß die Wissenschaft derzeit nicht. Aber eines hat sich die Familie geschworen: „Wir kämpfen mit aller Gewalt für die Linderung der Symptome."
„Maya muss um die Krankheit herumdenken"
Inzwischen haben die Matthiesens Forscher kennengelernt, die eine Idee haben. Es existiert ein Malariamedikament, das aller Voraussicht nach gegen MPAN zu helfen scheint. Um das endgültig zu erforschen, sind klinische Studien nötig. Man muss herausfinden, wie es hilft, in welcher Dosis, in welchem Zeitraum. Die Matthiesens versuchen nun auf allen Wegen, Geld für die Forschung zusammenzubekommen. „Die Pharmaindustrie muss schon im ersten Bewerbungsstep 150 Seiten zusammenstellen, auf denen sie alles darlegt, was die Regierung fordert", sagt Sebastian Matthiesen. „Das ist unheimlich viel Arbeit und natürlich machen sie das nicht, wenn sie kein Geld bekommen. Daran scheitert es im Moment."
Dennoch ist auch dieser Strohhalm nicht fundiert. Es ist lediglich die derzeit einzige Chance, die die Familie sieht, um ihrer Maya helfen zu können. Ein langwieriger Prozess ist das. Doch Maya läuft die Zeit davon. Deshalb kämpfen ihre Eltern inzwischen an mehreren Fronten. „Wir haben Parallelprojekte gestartet", erzählt Vater Sebastian. Ein saarländisches Unternehmen hat 15.000 Flyer drucken lassen, die über die Krankheit aufklären. Auf dem Saarlouiser Weihnachtsmarkt kamen 15.000 Euro Spenden zusammen, der Merziger Verein „Herzensengel" spendete 10.000 Euro. Der Arbeitgeber von Sebastian Matthiesen sammelte ebenfalls Spenden an seinem Standort, die Kirche in Lauterbach machte an Ostern eine Spendenaktion. All die Spenden leitet die Familie direkt an den Verein „Hoffnungsbaum" weiter, der es sich auf die Fahne geschrieben hat, für die Erforschung von NBIA-Erkrankungen zu sammeln. Mehr als 40.000 Euro sind durch das Engagement der Matthiesens mittlerweile zusammengekommen. Eine große Summe für eine kurze Zeit, „aber es reicht nicht", fürchtet Sebastian Matthiesen.
Immerhin, so hörten die Matthiesens nun, reicht das Geld, um ein erstes Forschungsstipendium zu vergeben, das noch in diesem Jahr starten soll. Das Projekt, das sich mit dem Malaria-Medikament auseinandersetzt, hat ein Volumen von etwa 120.000 Euro. „Wir sind froh, dass wir unseren Teil dazu beitragen können, dass es ins Laufen gerät", sagt Sebastian Matthiesen. Bis die Forschungen aber wirklich starten können, heißt es weiter hoffen, bangen, warten und den Alltag zumindest meistern so wie er ist. Die Familie macht das Beste daraus. „Es schränkt uns insofern ein, als dass wir sehr viel Geduld haben müssen", sagt Stephanie Matthiesen und lächelt: „Maya redet gern und viel." Das aufgeweckte Mädchen braucht dafür aber länger als andere – und das, obwohl ihr Gehirn ebenso schnell arbeitet wie das eines gesunden Menschen. „Man muss sich das vorstellen wie einen Flaschenhals: Sie muss Schleifen drehen und fängt an, einen Satz auszureifen, ehe er ihren Mund verlässt", sagt Mayas Vater. „Das geht eben nicht schneller." Inzwischen ist die Familie darauf eingestellt. Zweimal pro Woche geht Maya zur Physiotherapie. Der Therapeut fördert den Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung ihrer Muskeln.
Ihr Gehirn arbeitet normal schnell
Sitzt die Familie gemeinsam am Tisch und Maya will etwas sagen, hat sie es manchmal vergessen, bis sie dran ist. Sie findet dann die Worte nicht. Doch wenn sie allein im Garten spielt, oder mit ihrem Hund Boomer, wirkt sie, als hätte sie ihre Krankheit weit hinter sich gelassen. Im Garten springt sie gern auf ihrem Trampolin, während ihre Eltern und ihr Bruder ihr dabei zusehen. Die Familie musste lernen, mit der psychischen Belastung umzugehen, die solch eine Krankheit mit sich bringt: „Wir tun alles, was möglich ist, dagegen anzugehen", sagt Stephanie Matthiesen, und ihr Mann ergänzt: „Nach außen zeigen wir Souveränität und Vertrauen. Aber persönlich, im Inneren, ist es sehr schwierig zu akzeptieren, dass ihr Zustand so ist, wie er ist, und so bleibt." Mit Argusaugen habe die Familie ihr jüngstes Mitglied im Blick. Omnipräsent müsse man sein, man schaue gleichzeitig dabei zu, wie die Krankheit fortschreitet und kann nichts daran ändern. „So etwas", sagt Vater Sebastian, „wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht."
Mayas Situation bringt mit sich, dass ihr Bruder, der 15-jährige Fynn, sich dann und wann benachteiligt fühlen könnte. Doch das tut er nicht. „Wir kümmern uns nicht mehr um sie als um ihn", stellt Stephanie Matthiesen klar. „Wir schauen bewusst, dass das Gleichgewicht bleibt. Er ist 15 und weiß um die Krankheit und die Folgen. Er nimmt wirklich Rücksicht auf Maya." Der leidenschaftliche Motocross-Fahrer lässt sich nicht unterkriegen. Wenn er auf der Rennstrecke fährt, drückt ihm seine kleine Schwester die Daumen. Und wenn sie mal etwas länger braucht, nehmen sich seine Eltern dann eben später mehr Zeit für ihn. Die Familie isst gemeinsam und genießt die Zeit, die sie zusammen hat. Wie viele unbeschwerte Stunden noch folgen, wird die Zeit zeigen. Doch eines ist klar: Die Matthiesens werden nichts unversucht lassen, um Maya zu helfen.