Brüssel zu stärken, davon hält Ex-CDU-Fraktionschef Wolfgang Bosbach nichts. Vor allem in der Sozialpolitik gebe es zu viele Differenzen. Und er mahnt, Deutschland in der Migrationsfrage nicht zu überlasten.
Welchen Weg schlägt Europa in Zukunft ein? Ein Europa der Vereinigten Staaten mit Abgabe weiterer nationaler Kompetenzen oder ein Europa der Vaterländer, wie es einst Charles de Gaulle formulierte? Die Meinungen dazu gehen in den einzelnen Mitgliedstaaten weit auseinander. Auch in Deutschland, ob nun in der Opposition, in der Regierung, in den Parteien, in Wirtschaftsverbänden oder in der Bevölkerung.
Klar, die Deutschen sprechen sich mehrheitlich für Europa aus, profitieren sie doch in jeder Hinsicht sehr stark von der Europäischen Union. Doch wollen wir wirklich mehr oder weniger Europa?
Immer mehr Kompetenzen nach Brüssel abzugeben, davon verspricht sich Wolfgang Bosbach, 23 Jahre Mitglied im Deutschen Bundestag und viele Jahre stellvertretender CDU-Fraktionsvorsitzender sowie Vorsitzender des Innenausschusses im Bundestag, keine Weiterentwicklung Europas. „Es gibt zwar durchaus Bereiche, in denen mehr Europa Sinn macht wie eine gemeinsame Energie-, Umwelt- und Klimapolitik oder Sicherheitspolitik mit Verteidigung, Kriminalitätsbekämpfung oder Terrorabwehr. Aber in der Sozialpolitik gibt es zu viele Differenzen", sagt der 66-Jährige bei einer Europawahlkampf-Veranstaltung im saarländischen Sulzbach. Eine europäische Arbeitslosenversicherung beispielsweise könne schon wegen der sozialen Unterschiede in den jeweiligen Mitgliedstaaten nie und nimmer in der Praxis gut funktionieren.
Gleiches gelte für die Bankenunion. Bosbach zeigt viel Verständnis für Sparkassen und Volksbanken, die mit in die Haftung genommen werden sollen, wenn eine Großbank in finanzielle Schieflage gerät. „Warum sollten die kleinen Geldinstitute für etwas haften, was sie gar nicht beeinflussen können?" Das Beispiel Griechenland zeige doch, wie irrsinnig die Finanzpolitik sein könne. Die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist so groß wie die des Bundeslands Hessen. Mit dem Unterschied, dass Griechenland mit 340 Milliarden Euro und Hessen mit 40 Milliarden Euro verschuldet ist. Eigentlich sollten die Griechen mit der Tilgung der Schulden 2021 beginnen.
Gemeinsame Energie- und Klimapolitik
Jetzt hat die EU zehn Jahre drauf gegeben, und zwar von 2031 bis 2056. Wer ist von den politisch Handelnden dann noch in der Verantwortung? Wohl niemand. Überschuldung könne man nicht lösen, indem dem Schuldnerland immer mehr Kredite bewilligt werden. Letztendlich werde das Schuldnerproblem zu einem Gläubigerproblem.
Roland Theis, Justiz-Staatssekretär und Spitzenkandidat für die saarländische CDU bei den Europawahlen, sieht zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Handeln der europäischen Mitgliedstaaten keine Alternative. Dazu reiche ein Blick auf die Zahlen. Im Jahr 2050 leben nach Prognosen rund elf Milliarden Menschen auf der Erde, davon alleine 2,5 Milliarden in Afrika. Die Europäische Union stagniert bei 520 Millionen Menschen. Von den heute bedeutenden europäischen Volkswirtschaften wird maximal noch Deutschland auf Platz zehn in der Welt vertreten sein. Schon jetzt sind unter den größten und erfolgreichsten Top-Ten-Unternehmen in der Welt nur USA und China vertreten. „Ein einzelnes europäisches Land wird in der Welt dann kaum noch wahrgenommen. Nur gemeinsam haben wir eine Chance", sagt Theis.
Von einer verzerrten Wahrnehmung Europas seitens der Bürger spricht Michael Adam, CDU-Bürgermeister von Sulzbach. Er kennt die immer gleichen Vorwürfe. „Europa hat das Bild, alle Lebensbereiche regeln zu wollen oder einzuschränken, ob nun bei der Datenschutzgrundverordnung oder bei der Straßenbeleuchtung." Sündenbock, für alles, was schief laufe, sei immer nur Brüssel. Dieses Bild müsse in der Öffentlichkeit zurechtgerückt werden.
Das sieht auch Wolfgang Bosbach so, betont aber, dass an allen europäischen Verordnungen und Richtlinien die Bundesregierung zuvor mitgearbeitet habe. Wenn eine europäische Direktive in nationales Recht umgesetzt werde, dann mache das Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern eben sehr akribisch. „Das Temperament, europäisches Recht eins zu eins umzusetzen, ist in Europa unterschiedlich ausgeprägt, wie das Beispiel Messwerte zeigt." Bosbach glaubt nicht, dass die Luft in Paris oder Athen sauberer ist als in Stuttgart. „Es kommt darauf an, wo genau an welchem Standort gemessen wird."
Scheiden sich bereits die Geister bei wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Fragen in Europa, so gilt das Thema Migration als die Achillesferse schlechthin. Kein anderes Thema wurde in Europa in den vergangenen Jahren wohl so kontrovers diskutiert und hat regelrecht zu einer Spaltung geführt. Der Riss geht quer durch die Europäische Union, durch die Nationalstaaten und selbst durch die eigenen Parteien. Zwar sind sich Bosbach, Theis und Adam darin einig, dass jeder Mensch, der politisch verfolgt wird oder dem Folter oder Tod in seinem Heimatland drohen, das Recht hat, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. „Wir sind ein demokratischer Rechtsstaat."
Dringende Investitionen in die Bildung
Bosbach warnt aber davor, ein Land in der Migrationsfrage zu überlasten, vor allem wenn Menschen aus wirtschaftlichen Gründen versuchen, hierher zu kommen. „Wenn dann ein zu Recht abgewiesener Asylant abgeschoben werden soll oder wenn ihm das Aufenthaltsrecht entzogen wird, er dann trotzdem im Land bleibt, verlieren die Bürger das Vertrauen in den Rechtsstaat." Es spiele den Populisten und EU-Gegnern geradezu in die Karten, „wenn wir es nicht schaffen, Recht und Gesetz durchzusetzen".
Adam, seit neun Jahren Rathauschef der kleinen Stadt, verwies darauf, dass hier unter 17.000 Einwohnern 85 Nationalitäten friedlich zusammenleben. „Die Kommunen tragen bei der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen die finanzielle Hauptlast. Hier darf sich der Bund aber nicht aus der Verantwortung stehlen", warnte Adam vor den Folgen. Was Bosbach allerdings am meisten beunruhigt, ist die zunehmende Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und sozialer Leistungsfähigkeit. Soziale Ausgaben seien immer auf Dauer angelegt, und das müsse erst einmal erwirtschaftet werden, sprach er den Wirtschaftsvertretern an diesem Abend aus dem Herzen. Deutschland sei zwar in den klassischen Industrien wie Maschinenbau oder Chemie nach wie vor Spitze, aber bei den neuen Entwicklungen hinke das Land der Konkurrenz aus den USA und Asien zunehmend hinterher. Er mahnte daher dringende Investitionen an in Infrastruktur wie Glasfaser, 5G-Netze – und vor allem in Bildung und Forschung.