Knapp 90 fantastische Flusskilometer: Die Untere Havelniederung in Brandenburg ist ein weit verzweigtes Wasserparadies voller seltener Tier- und Pflanzenarten, naturnaher Ufer und Altwasser, herrlicher Sandbuchten und stiller Seen. Vier Freunde aus Köln wagen das große Abenteuer und begeben sich mit dem Hausfloß in ein traumhaftes Stück Deutschland.
Die Bootsfahrt beginnt im Zug. Fünf Stunden bis Brandenburg an der Havel. Zeit genug, um Schifffahrtszeichen und Seemannsknoten zu lernen. Rainer hat den Palstek schon drauf und erklärt ihn Tobi: „Zuerst bildest du den See" – er schlingt einen Kreis – „dann springt das Krokodil in den See" – er führt das Seil durch den Kreis nach oben – „geht um den Baum und springt wieder in den See. Danach ziehen." Ein älterer Herr, der schräg hinter uns sitzt, schaltet sich fachmännisch ein: „Den braucht man viel!" Dann steht er auch schon mit gezücktem Handy neben uns und präsentiert uns stolz sein Boot. Oder vielmehr: seine Frau im Bikini. Erst danach die englische Yacht, mit der er alle zwei Wochen von Berlin zum Scharmützelsee tuckert: „Ein schöneres Gewässer finden Sie nirgends!" Doch, tun wir. Die Untere Havel haben wir uns für unseren Törn mit dem Hausfloß ausgeguckt. Dort, wo seit 2005 das größte Fluss-Renaturierungsprojekt Europas umgesetzt wird, wollen wir an weitläufigen Auenlandschaften, an Schilfgürteln und Seerosenblättern entlangschippern. Wollen Fische springen, Vögel eintauchen, Libellen schwirren und Biber bauen sehen. Und uns dabei wie Huckleberry Finn fühlen. Auf großer Fahrt. Freiheit pur.
Unser schwimmendes Zuhause nehmen wir Samstagmittag in Plaue im Westhavelland in Empfang. „BunBo" heißt das gute Stück, kurz für Bungalow-Boot. Man stelle sich ein Floß vor, auf dem ein rotes, gelbes, grünes, also auf jeden Fall ein buntes Schwedenhäuschen steht. Wir bekommen „Dalarna-Blau" – entzückend! Ausgestattet ist unser „BunBo" mit allem, was man sich nur wünschen kann: Zwei schnuckelige Kajüten mit Blümchen-Bettwäsche, Küche mit Gas-Herd und Kühlschrank, Ikea-Klappsofa im Wohnzimmer, Dusche und WC, Hängematte und Feuerkorb auf der Terrasse. Home, sweet home! Doch erst muss unser selbst ernannter Käpt’n Tobi beweisen, dass die Lerneinheiten im Zug gefruchtet haben. Na, was bedeutet die Raute mit waagerechtem Lattenwerk und grünem Taktfeuer? Nach kurzer theoretischer Prüfung folgt die Praxis: Tobi und noch ein paar andere Skipper in spe müssen rauf aufs Test-„BunBo". Steuern, manövrieren, anlegen, aber zackzack! Bei der Rückkehr tönt der Einweiser mit breitem Grinsen zu Evelyn und mir rüber: „Mädels, wollt ihr mit dem wirklich fahren?" Ja, wollen wir! Die Rangordnung an Bord ist schnell geklärt. Tobi macht den Kapitän, Rainer den 1. Steuermann, Evelyn und mir bleibt der Job als Smutje – naja, zumindest müssen wir nicht den Schiffsboden scheuern. „Dann werfen wir die Kiste doch mal an!", spuckt der Käpt’n große Töne, und los geht’s. Mit 20 PS tuckern wir gemächlich flussabwärts, circa acht Kilometer in der Stunde.
Mehr als 1.100 geschützte Arten
Ein sanfter Fahrtwind umweht die Nase, eine Gruppe Enten macht unserem Traum in Dalarna-Blau mit empörtem Geschnatter Platz. 325 Kilometer ist die Havel lang. Sie entspringt in Mecklenburg-Vorpommern und mündet in Sachsen-Anhalt in die Elbe. Die weitaus größte Strecke legt sie jedoch in Brandenburg zurück. Da zwischen Quelle und Mündung nur 94 Kilometer liegen, mäandert der Fluss stark. Unser Revier, die Untere Havelniederung, ist das größte zusammenhängende Binnen-Feuchtgebiet Mitteleuropas. Seit 15 Jahren gibt ihr der Nabu ihr ursprüngliches Gesicht zurück. Uferbefestigungen werden abgebaut, Altarme angeschlossen, Flutrinnen reaktiviert. Seitdem kehren Wasserpflanzen, Fische, Vögel, Insekten, Schmetterlinge, Biber und Fischotter zurück. Während Käpt’n Tobi noch witzelt, dass man „in dem Amazonas-Arm da drüben rechts schon auf Anakondas achten muss", kreuzt doch tatsächlich eine Ringelnatter unsere Fahrbahn. Mehr als 1.100 meist geschützten Arten bietet die Havel schon heute wieder einen Lebensraum – es sollen noch mehr werden. Vielfalt pur.
Im kleinen Pritzerbe, wo vor 1.000 Jahren noch der slawische Stamm der Heveller siedelte, legen wir am nächsten Tag das erste Mal an. Schon von Weitem kommt uns Hafenmeister Mirko auf dem Steg entgegen. „Wollt Ihr festmachen?", ruft er. „Jawohl!" „Na, warum ruft Ihr mich denn dann vorher nicht an?" „Ach so, sollten wir?" „Na ja, wäre besser …" „Ist unser erstes Anlegemanöver", entschuldigen wir. „Ja, meins auch", behauptet Mirko, ehe er verschmitzt hinzufügt: „Zumindest für heute." Verschlafen liegt das Örtchen da, aber Thai-Restaurant und Eiscafé am Hafen haben gut zu tun. Wir kaufen einmal Erdbeerkuchen für alle und verputzen ihn auf der Terrasse unseres „BunBos". Füße hoch, Kopf im Nacken, Sonne im Gesicht und der Bauch gut gefüllt. Unsere Welt ist so richtig in Ordnung! Wird nur mal Zeit für das erste Bad in der Havel. Verträumte, stille Sandbuchten zwischen Röhrichtgürteln und Weidenbüschen haben wir schon einige gesehen. Als wir an der Naturbadestelle Böhne kurz vor Rathenow ankommen, setzen wir Anker – ganz zur Freude der Kids, die die kleine Bucht und ihren Sandstrand bereits erobert haben. Farin, frecher Wortführer der fröhlichen Gruppe, schwimmt als Erster heran und erklärt, dass sie „Wahrheit oder Pflicht" spielen. Nun müsse er einmal von unserem „BunBo" ins Wasser springen – seine Aufgabe. Lächelnd geben wir das Okay, und schon entert eine Horde Acht- bis Elfjähriger unser Boot, um quietschend die schönsten Arschbomben, Köpper und Bauchklatscher hinzulegen. Auch wir planschen, was das Zeug hält. Sommer pur.
Ein Anwohner schickt Verpflegung
Böhne entpuppt sich als Hotspot der Locals und letztere als echte Quasselstrippen. Hausmeister Thomas, der seine Abendrunde in der Havel schwimmt, – „Dann muss ich nicht mehr duschen!" – erzählt von dem großen Aal, den er in der vergangenen Woche aus dem Fluss gezogen hat. „Der schwimmt noch bei mir in der Garage." Beim Abdrehen wirft er über die Schulter: „In Rathenow müsst ihr in die ‚Eisdiele Schwarz‘ – ein besseres Himbeer-Mascarpone-Eis kriegt ihr nirgendwo!" Wir werfen den Grill an und glauben, die Bucht nun für uns allein zu haben. Bis eine weiß-rote Vespa-Kopie heranknattert. Ein Mann springt ins Wasser, umrundet unser „BunBo". „Na, was gibt‘s denn Leckeres?" Wir kommen ins Gespräch mit „Andreas, aber nennt mich Peta". Eine Dreiviertelstunde harrt der Hobby-Bauer aus Böhne im Wasser vor unserem Boot aus. Jede Aufforderung, doch an Bord zu kommen, schlägt er aus, weil „ich dann bei euch versacke und Ärger zu Hause kriege". Irgendwann reichen wir ihm Grillkäse, Baguette und Nudelsalat ins Wasser – die Fütterung der Einheimischen. Im Dunklen macht Peta sich schließlich auf den Heimweg. Wir sitzen bei Kerzenschein auf der Terrasse, lauschen der amerikanischen Country-Musik aus der Box und dem Froschkonzert aus dem Schilf. Am Ufer watschelt ein Waschbär durchs Gebüsch. Mit ein bisschen Fantasie könnte die Havel jetzt auch der Mississippi sein. Idylle pur.
Der nächste Morgen hält eine Überraschung parat: ein kleiner weißer Eimer mitten am Strand. Rainer schwimmt rüber und kehrt zurück mit Kirschen, zehn Eiern, einem Glas selbst gemachter Erdbeermarmelade und einem Zettel, auf dem steht: „Für die Floßfahrer. Schönen Urlaub! Gruß, Peta." Wir sind entzückt! Und bestens gestärkt für einen weiteren Tag auf dem Wasser. Bald erreichen wir Rathenow, wo Johann Heinrich August Duncker 1801 die deutsche optische Industrie begründete. Zu unserem Schrecken klärt uns die freundliche Dame in der Touristinfo auf, dass die „Eisdiele Schwarz" gar nicht in Rathenow liegt, sondern im Ortsteil Steckelsdorf, vier Kilometer entfernt. „Da kommen Sie mit dem ‚BunBo‘ aber nicht hin!" Gott sei dank gibt es einen Bus. Eine halbe Stunde später sitzen wir vor Bechern mit „Wiener Mandel", „Pistazie/weiße Schokolade" und „Holunder-Mascarpone". Seit 1952 machen die Schwarz’ in Sachen Eis. „Der Chef steht jeden Morgen um 4 auf und bereitet bis 12 Uhr Eis zu. Wir haben immer über 20 Sorten", verrät der junge Mann hinter der Theke voller Stolz. Der Rest des Tages vergeht in nun schon lieb gewonnener Monotonie. Gemächlich gleiten wir über die Havel, genießen die Stille, die wunderschönen Ausblicke, das Gezwitscher der Vögel, und werfen an der garantiert schönsten Stelle den Anker. Schwalben sausen heran, picken sich die Mücken aus den Spinnennetzen an unserem Dach. Die Landschaft spiegelt sich im Wasser. Ein Hecht taucht kurz auf und gleich wieder unter. Erholung pur.
Wohltuende Monotonie und Stille
Tag fünf. Die pathetischen Klänge von Vangelis’ „Conquest of Paradise" erfüllen das friedliche „BunBo". Doch nicht etwa Henry Maske zieht in glitzerndem Bademantel und Boxhandschuhen in unseren Wohnraum ein, sondern Skipper Tobi in schneeweißer Kapitänsuniform aus dem Kölner Karnevalsladen. Tada! In der Schleuse Grütz erregt sein Aufzug Aufsehen. Gleich drei Havelländer entströmen dem Schleusenhaus und kommentieren trocken: „Wenn du so fährst, wie du aussiehst, ist es ja gut." Immer heißer brennt die Sonne vom strahlend blauen Himmel, da tauscht unser Kölner Karnevals-Käpt’n das Jackett gegen ein weißes Kurzarmhemd. Jetzt sieht er endgültig aus wie Sascha Hehn auf dem Traumschiff. So landen wir im kleinen Strodehne – ein Tipp von Peta. Das malerische Dorf mit seinen roten Backsteinhäusern ist der Traum zivilisationsmüder Städter. Gleich zwei Familien und ein Ehepaar aus Berlin suchen am schwarzen Brett nach einem Haus im Ort. Die Straßen tragen hier so schöne Namen wie „Backofenberg". Auf dem Kirchturm nistet ein Storchenpaar. Ein Plakat wirbt für das „4. Plattdeutsch-Festival", ein anderes für den Regionalladen mit „Gutes von umme Ecke". Auf dem Friedhof liegt der zur Leipziger Schule zählende Maler Bernhard Heisig begraben, der 1998 den Bundestag mit ausgestalten durfte und bis zu seinem Tod 2011 in Strodehne lebte. Seine Witwe, die Malerin Gudrun Brüne, sieht man manchmal in den Straßen. Wer einem auf jeden Fall begegnet, ist Wolfgang Schwuchow, 20 Jahre lang Bürger-, heute Hafenmeister. Und Michael Paulitschek, Architekt aus Cuxhaven, der mit seinem Boot den ganzen Sommer im Hafen von Strodehne liegt – „weil es hier so schön ist". Schnell überzeugen uns die beiden, die Nacht in der hübschen Marina zu verbringen. Und auf Michaels Boot noch einen Absacker zu trinken. „Kummt man röwer, ick hebb‘ nen Wein." Und so sitzen wir bald zu sechst an Deck, trinken Roten und schauen der Sonne beim Versinken zu. Kurz schleicht sich der Gedanke ein, dass wir am nächsten Tag die Rückfahrt beginnen müssen. In zwei Tagen heißt es Bye-Bye „BunBo", Bye-Bye Havel. Egal, noch haben wir: Urlaub pur.