Die Ausrottung verschiedener Spezies hat selbst vor ihnen nicht halt gemacht
Dank der #metoo-Debatte entsteht gerade eine völlig neue Kommunikationskultur. Endlich werden Themen wie sexualisierte Gewalt oder Missbrauch angesprochen und patriarchalische Kommunikationsmuster aufgedeckt. Und bedauerlicherweise wird das Bisherige nur die Spitze des Eisberges gewesen sein.
Im Zuge dieses längst überfälligen Impulses der Selbstermächtigung hat sich etwas entwickelt, das man unter „Hypersensibilität" zusammenfassen könnte – eine Art Überkompensation. Die Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Fraktion ist längst nicht mehr nur dem eher politisch rechten Spektrum zuzuordnen. Eine Entwicklung, die zum Teil kuriose Auswüchse annimmt.
Beispiel gefällig? Bernd Stelter (!) macht an Fasching (!) einen minder gelungenen Witz (!) über Doppelnamen (!). Jedes Ausrufezeichen verdeutlicht die eigentliche Belanglosigkeit der ganzen Chose. Daraufhin stürmt eine 57-Jährige – selbst Doppelnamenträgerin – die Bühne, weil sie sich angegriffen fühlt. Klar kann man sich aufregen, dass Frauen vor 1994 entweder den Namen ihres Mannes oder eben einen Doppelnamen annehmen mussten. Nur hat die Bühnenstürmerin das so gar nicht einmal formuliert. Es war halt so ein … naja … Reflex eben. Das muss man schon verstehen …
Eine Karnevalsveranstaltung ist dafür jedoch die falsche Bühne. Wer als Zuschauer*in einem Auftritt beiwohnt, bleibe bitte grundsätzlich vor der Bühne – der oder die Darbietende darauf. Kühne These: Auch das hat mit Respekt zu tun. Will man auf eine Bühne, sollte man zu Open-Mic-Sessions gehen oder selbst ein Bühnenprogramm konzipieren.
Ein anderer Fall: Einige Radiostationen in den USA verbannten das Lied „Baby, it’s cold outside", geschrieben von Frank Loesser im Jahr 1944, aus dem Programm. Stein des Anstoßes sind verschiedene Zeilen, die nicht nur ein antiquiertes Frauenbild vermitteln (wie überraschend bei einem 75 Jahre alten Lied …), sondern die regelrecht Hinweise auf eine versuchte Vergewaltigung enthalten sollen. Im gesungenen Dialog fragt die Sängerin den Sänger: „What’s in this drink?" Instinktiv setzt bei den Hypersensiblen die Schnappatmung ein: Das Schwein hat K.-o.-Tropfen in den Drink gemischt!
Wie eingangs erwähnt: Lesarten (Mehrzahl) sind tot. Frei nach dem Titel des Highlander-Films: Es kann nur eine geben! Ach ja: Der gute alte Kontext ist gleich mit draufgegangen. Denn natürlich gibt es in dem Lied weitere Zeilen. Zeilen, die beschreiben, wie die junge Frau zweifelt und fürchtet, es könnte Gerede geben, wenn sie bei ihrem Liebhaber über Nacht bleibt. Auch er sucht fadenscheinige Gründe („Es ist so kalt draußen!"), damit sie bleibt. Zwingt er sie zum Bleiben oder – total crazy, ich weiß – könnte der Song einfach von zwei Verliebten handeln, die einfach nicht genug voneinander bekommen? Aber ach, oh, ach!
Diese Frage stellt sich nicht, denn leider ist die einzig wahre Lesart schon vergeben, und so müssen wir uns damit abfinden, dass das Lied als Teil der Rape Culture für immer verbannt wird. Ich übertreibe.
Was man aber konstatieren muss: Impulse setzen unser Nachdenken Schachmatt. Statt einer überlegten haben wir es nun mit einer hypersensibilisierten Kommunikation auf beiden Seiten des politischen Spektrums zu tun. Unweigerlich sehe ich zwei Kleinkinder vor mir, die sich im Sandkasten gegenseitig Plastikschippchen über den Schädel ziehen, während ihnen – pardon! – der Rotz aus der Nase schießt. Ähnlich „ergiebig" sind gesellschaftliche „Diskussionen" mittlerweile.
Noch einmal: Nicht nur sexualisierte Gewalt selbst, sondern auch die Verharmlosung derselben durch Taten, durch Worte ist ein Verbrechen, das es zu bestrafen gilt. Wir müssen in vielen Bereichen und in der Art, darüber zu kommunizieren, viel sensibler werden. Überempfindlichkeit jedoch schadet immer der Sache. Und um die geht es uns doch – oder könnte etwa …? Ach, Quatsch!