Für die einen ist es der bitterste Abend, während die anderen jubeln: Der Klimaschutz war das beherrschende Thema dieser Europawahl aus deutscher Sicht und gleichzeitig der Sargnagel für die Sozialdemokraten, während der Aufwind für die Grünen unvermindert anhält.
Zunächst die beste Nachricht: Die Wahlbeteiligung in Deutschland, die in den vergangenen Europawahlen kontinuierlich abgenommen hatte, verbuchte ein sattes Plus. 48,1 Prozent waren vor fünf Jahren an die Urnen gegangen, in diesem Jahr waren es über 61 Prozent. Die „Schicksalswahl", zu der viele Politiker und Medien die Wahl hochstilisiert hatten, hat auch in anderen europäischen Ländern zu deutlich höherer Wahlbeteiligung als bei früheren Urnengängen geführt. Die Beteiligung war in Deutschland nicht nur besser als 2014, sondern auch etwa zehn Prozentpunkte höher als im EU-Durchschnitt.
„Sensation, die uns den Atem nimmt"
Doch der Urnengang galt nicht nur als Votum pro oder contra rechts und pro oder contra Europa. Plus 9,8 Prozent, das ist sicher ein historisches Ergebnis für die Grünen in Deutschland, die damit 20,5 Prozent der Stimmen für sich verbuchen. In Hamburg und Berlin wurden sie sogar stärkste Kraft. Eine Überraschung kann das kaum sein, zeigt es doch einen weiter anhaltenden Trend: Grün wählen ist mittlerweile en vogue, der Klimaschutz, das Signaturthema der Grünen, beherrschte den Wahlabend in Deutschland wie kaum ein anderes Thema. „Das ist ein Sunday for Future", sagte Spitzenkandidat Sven Giegold in Anspielung auf die Schüler- und Studentenbewegung Fridays for Future, die sich für einen besseren Klimaschutz einsetzt. Dementsprechend gehen Annalena Baerbock und Robert Habeck, die beiden Parteichefs, mit breiter Brust auch in die Verhandlungen zur neuen Bremer Stadtregierung, in der die CDU erstmals seit 73 Jahren die SPD als stärkste Kraft abgelöst hat. Es sei eine „Sensation, die uns ein Stück weit den Atem nimmt", sagt Habeck. „Alter Schwede, was kommt da an Aufgaben auf uns zu."
Die SPD hatte derweil genügend Grund zu jammern: Nicht nur, dass ihre vielgerühmte Erneuerung nicht aus den Puschen kommt, jetzt wird sie auch vom Wähler in der Europawahl katastrophal abgestraft. 15,8 Prozent (-11,4 Prozent) nannte Parteichefin Andrea Nahles enttäuschend, bezeichnete das Ergebnis jedoch als „Herausforderung". Als Erfolg für die Sozialdemokraten verbuchte sie den sozialverträglichen Braunkohleausbau und kündigte ein Klimaschutzgesetz an. Spitzenkandidatin Katarina Barley und Generalsekretär Lars Klingbeil gaben zu, in Sachen Klimaschutz sei die SPD noch nicht gut genug aufgestellt. Jetzt aber personelle Konsequenzen zu ziehen sei falsch, so Klingbeil. Trotzdem ließ es sich Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht nehmen, indirekt auch das Spitzenpersonal infrage zu stellen. Kevin Kühnert, der nicht nur die SPD mit sozialistischen Thesen aufgeschreckt hatte, wird sich ebenfalls freuen: Das Ergebnis liefert ihm weitere Munition, die er gegen die ungeliebte Groko in Berlin einsetzen wird.
Für Annegret Kramp-Karrenbauer ist dieser Wahlabend der erste als CDU-Vorsitzende – und zugleich ein schwieriger. Mit 28,9 Prozent (-6,5 Prozent) hat auch die CDU/CSU deutliche Verluste in Deutschland hinnehmen müssen und landet damit zum ersten Mal in einer deutschlandweiten Wahl unter der Marke von 30 Prozent. Und das, obwohl sie mit dem CSU-Politiker Manfred Weber einen aussichtsreichen Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten ins Rennen schickte. Da war das Ergebnis der Bremer Oberbürgermeisterwahl nur ein schwacher Trost. Kramp-Karrenbauer dankte dem Spitzenkandidaten für die Kommissionspräsidentschaft und versprach ihm Rückenwind bei der kommenden Entscheidung, wer den Posten in Brüssel von Jean-Claude Juncker übernimmt. Möglicherweise ist die Parteivorsitzende jedoch mitverantwortlich für den Absturz ihrer Partei. Nach ersten Untersuchungen hat die CDU vor allem bei den jüngeren Wählern Stimmen eingebüßt, womöglich auch, weil Kramp-Karrenbauer nach dem Video des Youtubers Rezo gestänkert hatte, es sei verwunderlich, wenn die CDU nicht auch noch für die sieben Plagen Ägyptens verantwortlich gemacht werde. Das Kommunikationsdesaster kam offenbar nicht gut an.
Die AfD kommt auf 11,0 Prozent (+3,9 Prozent). Parteichef Alexander Gauland zeigte sich zufrieden, bezeichnete den Wahlkampf als sehr schwierig, zog sich in gewohnter Manier auf die Opferrolle zurück. Vor allem sei es der AfD schwer gemacht worden, Wahlkampfveranstaltungen auf die Beine zu stellen; auch das Strache-Video, das die ÖVP/FPÖ-Regierung in Österreich hatte platzen lassen, sei mit dafür verantwortlich. Es sei schwierig gewesen zu erklären, warum man die AfD wählen sollte, die doch das Europäische Parlament abschaffen wolle. Die Wähler in Sachsen und Brandenburg könnten es allerdings verstanden haben, sie machten die AfD zur stärksten Kraft vor der CDU.
GroKo in Berlin unter Druck
Die Linke und ihr Spitzenkandidat Martin Schirdewan können indessen mit ihrem Ergebnis ebenfalls kaum zufrieden sein. Sie holten 5,5 Prozent (-1,9 Prozent), auch hier war das Thema Klimaschutz zwar im Wahlkampfprogramm vorhanden, doch die Wähler haben dem mit ihrer Stimme nicht Rechnung getragen. Man habe es versäumt, „deutlich zu machen, dass es neben den Rechten und Konservativen eine klare linke Alternative gibt", gab sich Parteichef Bernd Riexinger selbstkritisch. Immerhin einen Lichtblick gab es allerdings in Bremen, bei der Bürgerschaftswahl holte die Partei zwölf Prozent und könnte an einem möglichen rot-rot-grünen Regierungsbündnis beteiligt werden.
Christian Lindner wollte zu Beginn des Jahres zehn Prozent der Stimmen holen, die FDP verbuchte aber am Wahlabend nur 5,4 Prozent (+2,1 Prozent). Lindner setzte vor allem darauf, dass seine Partei im europäischen Liberalen-Verbund ALDE die eigene Kandidatin, die Dänin Margrethe Vestager, als neue Kommissionspräsidentin installiert.
Martin Sonneborns Satirepartei „Die Partei" darf sich über Stimmenzuwächse freuen. Voraussichtlich zwei Sitze verbucht sie mit 2,4 Prozent für sich, damit sind der Parteichef und der Kabarettist Nico Semsrott als Vertreter im Europaparlament gesetzt.
Mit diesem Ergebnis wird die Große Koalition in Berlin weiter unter Druck gesetzt. Personelle Konsequenzen muss sie formal durch Katarina Barleys neuen Job als Abgeordnete in Brüssel ziehen, der Sessel der Justizministerin wird damit frei. Allerdings reicht dies den Wählern womöglich nicht: Laut einer Umfrage von YouGov fordern 42 Prozent den Rücktritt der Kanzlerin, sollte die CDU massiv Stimmenverluste einfahren. Die zuvor etwas leiser gewordene Diskussion um Angela Merkels und Annegret Kramp-Karrenbauers Positionen erhält neue Nahrung.