Was das Brexit-Chaos über das Führungsversagen der Politik lehrt
Die Geschichte des Brexits ist eine Geschichte der Irrtümer und eine Geschichte des totalen Führungsversagens der Politik. Als die britische Premierministerin Theresa May am vergangenen Freitag unter Tränen ihren Rücktritt als Parteichefin der Konservativen ankündigte, war sie nur noch ein Häufchen Elend. Sie hatte unzählige Niederlagen weggelächelt, selbst in aussichtsloser Lage Optimismus verbreitet. Doch am Ende scheiterte sie.
May beging den Fehler, sich immer nur als Erfüllungsgehilfin der Brexit-Anhänger zu betrachten. Es ist ein Fall von bizarrer Ironie, dass sie vor der Volksabstimmung im Juni 2016 für den Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union war. Sie ließ sich nach ihrer 180-Grad-Wende vor den Karren der Hardliner in ihrer Partei spannen. Diese träumten den Traum von einem starken, nur auf sich selbst gestellten Großbritannien, von einer Art britischem Empire 2.0.
Die Regierungschefin beugte sich dem Druck. Sie dachte nur an die Befriedung ihrer aufgewühlten Partei. Doch May hatte weder eine Vision noch ein Konzept für Großbritannien. Sie ging nicht auf die Opposition zu. Sie ackerte und rackerte für einen Wischiwaschi-Deal mit Brüssel, aber ohne Richtung. Hätte May frühzeitig für eine permanente Zollunion mit der EU gekämpft, wäre möglicherweise ein gemäßigter Brexit erreichbar gewesen.
Aber auch die oppositionelle Labour Party verfügt über kein Modell, das sich am Gesamtwohl orientiert. Deren Chef Jeremy Corbyn wollte nur eines: May in die Enge treiben, die Spaltung der Konservativen vergrößern und durch Neuwahlen an die Macht kommen.
Die Weichen für das Brexit-Chaos hatte indessen der konservative Premier David Cameron gestellt. Er hätte das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU neu austarieren können. Doch aus Schwäche und Feigheit ließ er das Volk entscheiden, das die Konsequenzen des Brexits gar nicht überblicken konnte.
Man muss sowohl Cameron als auch May und Corbyn den Vorwurf machen, dass sie keinen Sensor für die Stimmungen, Befindlichkeiten und Wünsche der Bevölkerung hatten. Keiner von ihnen nahm wahr, dass sich im Land etwas zusammengebraut hatte. Da war der Unmut gegen die wachsende Zahl an EU-Ausländern, die den britischen Satz von Kindergeld bekamen, selbst wenn die Sprösslinge in Polen oder Rumänien lebten. Oder der Ärger über das völlig überstrapazierte öffentliche Gesundheitssystem (National Health Service), das im Lauf der Jahre kaputtgespart worden war.
Die Meinungsbildung im Zuge des Brexit-Prozesses ist auch eine Revolte gegen die politischen Eliten. Diese waren unfähig, die höchst komplex gewordene Welt zu erklären und vernünftige Lösungen zu liefern. Dazu gehört, dass sich im Zuge der Globalisierung die Produktion von Gütern und das Angebot von Dienstleistungen weltweit sortieren. Es gibt Gewinner – zum Beispiel Verbraucher, die vom Import preisgünstiger Waren profitieren. Und es gibt Verlierer – zum Beispiel jene, deren Arbeitsplätze durch die Abwanderung von Firmen in Billiglohnländer wegbrechen.
Es ist die hohe Aufgabe der Politik, dies in der breiten Öffentlichkeit darzustellen. Es geht um Wettbewerb, Leistung – aber auch um soziale Balance. Wer zurückfällt, muss aufgefangen werden, etwa durch berufliche Qualifizierung.
Cameron, May und Corbyn haben durch ihre Versäumnisse den Boden für politische Scharlatanerie bereitet. Populisten wie die Brexit-Fetischisten Boris Johnson – der gute Chancen hat, neuer britischer Premierminister zu werden – oder Nigel Farage sind Verführer, die Schwarzweiß-Bilder verkaufen. Sie arbeiten mit Ressentiments (gegen Brüssel), Hass und Feindseligkeit. Und sie bauen auf die Illusion eines allein seligmachenden Nationalismus.
Verantwortungsvolle Politik muss sich den Falschmünzern offensiv entgegenstellen. In Großbritannien, Frankreich und Italien ist dies nicht ausreichend geschehen – deshalb hatten die Rechtspopulisten dort bei der Europawahl am vergangenen Wochenende Erfolg. Das erfordert viel Kommunikation. Revolten gegen Eliten lassen sich verhindern. Die Formel: Ehrlichkeit, charakterliche Integrität und ein schlüssiges Konzept. Schottet sich die politische Klasse hingegen ab und flüchtet sich in ein Raumschiff-Denken, macht sie die Populisten stark.