Wir werden damit leben müssen: Die Rechtspopulisten sind Europas neue Opposition. Das muss nicht nur schlecht sein. Denn es kann Reformen beschleunigen.
Es ist gekommen wie vorausgesagt. Rechtspopulisten haben die Europawahl zu ihrer Bühne machen können. Die AfD in Deutschland etwa holte elf Prozent. Und nun haben sie den Applaus zur politischen Münze gemacht. Künftig sitzt in der EU-Volksvertretung eine Opposition, die laut werden könnte. Aber: Das muss nicht nur schlecht sein.
Der zu erwartende Versuch, Sand ins Getriebe des Brüsseler Betriebes zu streuen, birgt Chancen. Dann nämlich, wenn die künftigen Spitzen der Europäischen Union sich angespornt fühlen, jene Ursachen anzugehen, die das spannende Vielvölker-Projekt für so viele Menschen obskur werden ließen. Nun bedarf es der Empathie – nicht Zustimmung – für Millionen Menschen, die 25 Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht nicht von seinem Sinn überzeugt zu sein scheinen.
Europa muss mehr Biss bekommen. Das neue Europaparlament kann das allerdings nur bedingt bewirken – es hat ja keine eigene Gesetzgebungskompetenz. Aber seine proeuropäische Mehrheit kann das Parlament als Plattform nutzen. Das geht schon in wenigen Wochen los, wenn jeder Staats- und Regierungschef einen EU-Kommissar benennt. Jeder muss vor dem Europaparlament ein Hearing durchlaufen. Das ist die Chance für die Europaabgeordneten, jeden Anwärter zu „grillen" und darauf abzuklopfen, welche Reformen er anzustoßen gedenkt.
Es gibt viel zu tun für die 27 (oder 28?) Kommissare. Folgen der Globalisierung intelligent managen. Europa zum Chancenkontinent für Wissenschaft und Forschung machen. Das soziale Auseinanderklaffen bewältigen.
Der Schlüssel für einleuchtende Zukunftsgestaltung und zur Wiedergewinnung verlorenen Vertrauens liegt aber letztlich nicht beim jetzt gewählten Europaparlament, sondern bei den Staats- und Regierungschefs. Sie sind es, die den Weg frei machen müssen in Richtung eines Neustarts der EU. Das beginnt mit einer Reform ihrer eigenen Geschäftsordnung im Europäischen Rat, wo das Einstimmigkeitsprinzip wegmuss. Sonst wird es weiter so gehen, wie bei der Aufteilung von Flüchtlingen: jahrelang keine Lösung, weil einzelne Länder blockieren.
Reformlähmung in Brüssel überwinden
Es geht aber auch darum, längst beschlossene EU-Vorhaben rasch zur Realität werden zu lassen. Etwa die Sicherung der Außengrenzen durch eine 10.000 Mann starke Grenztruppe. Die muss nicht nur rekrutiert, ausgebildet und stationiert werden, sondern auch mit modernstem Equipment ausgestattet werden. Weitere komplizierte Projekte sind eine gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik sowie die Einführung echter EU-Zuständigkeiten bei grenzüberschreitenden Themen wie Umwelt-, Klima-, Energie- und Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik.
Auf der Agenda steht natürlich auch die Rolle des Europaparlaments selbst. Es muss endlich alle Rechte einer Volksvertretung bekommen. Der Weg dahin wird lang und beschwerlich. Aber er muss beschritten werden. Das Europaparlament als die einzige direkt demokratisch legitimierte EU-Institution muss gestärkt und die Macht der nationalen Regierungen abgebaut werden, wollen wir in der EU nicht auf ewig mit einer parlamentarischen Scheinkulisse weiterleben.
Will Europa vorankommen, muss die EU sich insgesamt zu mehr als nur einem Staatenclub weiterentwickeln. Innerhalb von fünf Jahren – der Amtszeit bis zur nächsten Europawahl – müssen überzeugende Antworten auf die Frage gefunden werden, wie es mit Europa weitergehen kann und soll. Das erfordert politische Innovationskraft bei allen demokratischen Parteien Europas. Es wird darüber zum Streit kommen. Denn die einen werden die Vereinigten Staaten von Europa propagieren. Andere wollen eher ein Europa der Vaterländer, der Regionen oder gar keine Veränderung. Dieser Streit muss geführt werden.
Doch damit über die Zukunft Europas nicht, wie bislang, nur kleine informierte Zirkel reden, müssen die gewählten Parteien das Thema „Gestaltung der künftigen EU" selbstbewusst in die Öffentlichkeit tragen – zu den Bürgerinnen und Bürgern. Dafür bieten sich Bürgerkonsultationen an, wie Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sie vorschlägt. Das Europäische Parlament könnte dafür die politische Bühne bieten.
Sind das Utopien? Nein. Die Fraktion der Rechtspopulisten wird alle Proeuropäer dazu zwingen, die drängenden Fragen zu beantworten. Gerade die Anwesenheit der EU-kritischen Geister kann dazu beitragen, die Reformlähmung in Brüssel und Straßburg zu überwinden. Denn die EU-Befürworter stehen ab sofort unter Dauerbeobachtung. Sie müssen das europäische Haus auf neue Grundmauern stellen, wollen sie nicht riskieren, dass die Wähler und Wählerinnen den EU-Abriss durch nationalistische Schlaghämmer vorantreiben.
Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hat einmal gesagt: Wer Visionen habe, der solle zum Arzt gehen. Er hat unrecht. Ohne Perspektive auf das Morgen macht das Heute nur wenig Sinn. Die Vision eines künftigen Europas zwischen den Machtblöcken USA, Russland und China und in Nachbarschaft zu zerrütteten, ausgebluteten oder darbenden Regionen zu formulieren und im breiten Demokratenkonsens zu implementieren – das muss jetzt angesichts des Wahlergebnisses eine der Hauptaufgaben europäischer Politik sein.
Der niederländische Politphilosoph Luuk Johannes van Middelaar, einst Mitglied des Kabinetts von Herman Van Rompuy, dem ersten Präsidenten des Europäischen Rates, sagt: Es werde im Europaparlament „geringeren Raum für Hinterzimmerabsprachen, … sondern offenere Themendiskussionen und vielleicht auch mehr unterschiedliche Stimmen" geben. Und das ist auch gut so.