Nach der Europawahl ist vor dem Brexit. Irland stehen unruhige Zeiten bevor. Mehr als 100 Jahre nach der Unabhängigkeit der Republik lebt das Land noch immer von einer nationalen Rebellengeschichte. Eine neue Grenze könnte zu neuen Eskalationen führen.
Aus der Ferne wummert Kanonenfeuer. Der Knall fährt durch Mark und Bein. James Connolly reißt die Augen auf: „Sie setzen wirklich schwere Artillerie ein, mitten in Dublin!", ruft er, so laut er kann, um die Gewehrsalven zu übertönen. Bedrohlich und ohrenbetäubend knallen sie direkt vor dem Rebellenstützpunkt. Feuer, Rauch, Schreie. Die Lage wird unübersichtlich. Connolly, der Anführer der Rebellen, liegt verwundet auf einer Bahre und gibt letzte Anweisungen. Kurz darauf wird er tot sein. Doch zuerst – zuerst versucht er mit letzter Kraft, die Freiheit der Iren zu erlangen.
Die Bilder der brennenden Häuser und schreienden Menschen spiegeln sich in den Kinderaugen wider, die gebannt auf den Film in der Ausstellung im General Post Office in Dublin blicken. Dort, in der Postzentrale der irischen Hauptstadt, befestigten die Rebellen vor mehr als 100 Jahren ihre Hauptstellung, als sie vom 24. bis zum 29. April 1916 versuchten, ihr Land vom britischen Königreich abzuspalten. Der Lehrer Patrick Pearse, der Sozialist James Connolly und der Nationalist Thomas Clarke hatten gemeinsam eine Unabhängigkeitserklärung verfasst.
Feindschaften sitzen tief
Heute ist es das britische Königreich selbst, das sich abzuspalten gedenkt – von Europa. Und während in der irischen Hauptstadt täglich Hunderte in die Ausstellung in der Postzentrale pilgern, die an die Rebellion erinnert, ziehen an der 500 Kilometer langen Grenze zwischen der Republik Irland und dem Norden dunkle Wolken auf. Eine sichtbare Grenze gibt es dort seit 1923 nicht mehr. Seitdem gehören beide Teile Irlands zur Common-Travel-Area, einem offenen Reisegebiet. Bauernhöfe stehen zum Teil in beiden Teilen der Insel, Menschen leben im Norden und gehen in der Republik zur Arbeit – und umgekehrt. Familien besuchen einander über die unsichtbare Grenze – nicht auszudenken, was die Wiedereinführung von Kontrollen bedeuten würde. Schon heute sichtbar, fühlbar und greifbar scheint die Grenze in der Stadt Derry, die in Nordirland direkt an die Republik grenzt. Dort, wo Plakate an Straßenlaternen dazu aufrufen, die Revolution zu vollenden. Dort, wo Denkmäler an im Bürgerkrieg gefallene Patrioten erinnern. Dort, wo Straßenkunst die Gewalt längst vergangener Tage zelebriert. Und dort, wo im April die nordirische Journalistin Lyra McKee in einen bewaffneten Konflikt geriet, der sie das Leben kostete. Es war der erste politisch motivierte Todesfall in Nordirland seit dem Frieden. Die militante Gruppe „Neue IRA" bekannte sich zur Tat. Sie zeigt, wie labil die Lage nach wie vor ist.
Auch um all das zu verstehen, kommen die Touristen nach Dublin, um sich mit der Rebellionsgeschichte lange vor der Europäischen Union zu beschäftigen. Sie schlendern durch abgedunkelte Räume mit düsterer Atmosphäre. Vorbei an Uniformen von Kindersoldaten, die gegen die Briten kämpften. Vorbei an Gedenktafeln, die an die mehr als 400 Toten des Aufstands erinnern. Ein großer Teil der Touristen kommt aus Irland, doch auch für Besucher aus anderen Teilen der Welt hat der Osteraufstand eine Anziehungskraft. Schließlich war er Vorbild für Revolutionen auf der ganzen Welt. „Und er war bedeutend für den Kampf gegen den Kolonialismus im 20. Jahrhundert", sagt der Historiker Eunan O’Halpin.
Wieder rauscht eine Kanonensalve über den Bildschirm. Das Mädchen im Zuschauerraum zuckt zusammen und gräbt die Fingernägel ihrer winzigen Hand in das Knie ihres Vaters. „Da muss sie durch", sagt der. Thomas Tailor, ein Mitdreißiger aus dem Nordwesten Irlands, ist gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern in die Hauptstadt gepilgert, um sich die Ausstellung über den Osteraufstand anzusehen. Vier Stunden dauert die Fahrt. „Bei uns an der Grenze zu Nordirland ist das ein großes Thema", erzählt er. Vor allem für „die Älteren, die 60-, 70-Jährigen – für die ist das ein großes Thema. Aber auch wir Jungen wollen unsere Geschichte kennen. Auch, wenn wir die Engländer nicht mehr so hassen, wie unsere Väter."
„Ich sehe mich eher als Europäer"
Dieser Hass ist tief verwurzelt. Jahrhundertelang hatten die Briten ihre westlichen Nachbarn unterworfen, enteignet und deren katholischen Bräuche unterdrückt. Als die große Hungersnot im 19. Jahrhundert die irische Bevölkerung von neun auf dreieinhalb Millionen sinken ließ, rührte die Regierung in London keinen Finger. Als schließlich während des Ersten Weltkriegs tausende Iren an der Front auf dem Festland für England starben, sahen ein paar Aufständische um Pearse, Connolly und Clarke ihre Zeit gekommen. Am 24. April, dem Ostermontag 1916, scharten sie rund 1.000 Nationalisten um sich, riefen die irische Republik aus und besetzten strategisch wichtige Gebäude in der Hauptstadt. Darunter die Postzentrale, was ihnen erlaubte, die Kommunikation der Briten weitgehend zu unterbinden. Doch damit, dass die Briten die irische Hauptstadt mit schwerer Artillerie in Schutt und Asche setzen würden, hatten sie nicht gerechnet.
An einem Apriltag, 100 Jahre später, scheint die Sonne auf die Straßen vor der Post. Als der eisige Wind die dichten Wolken gen Horizont weht, gelingt es ein paar Sonnenstrahlen, sich ihren Weg zu bahnen. Dann sind die daumennageldicken Einschusslöcher für ein paar Augenblicke deutlich sichtbar. Das Licht strahlt durch sie hindurch. Nur wer genau hinsieht, erkennt die Schäden an den mannsgroßen Engeln, die das O’Connell-Denkmal in der Stadtmitte der irischen Hauptstadt zieren. Fast wirkt es, als seien sie eben erst entstanden. Kevin Harney setzt seine Sonnenbrille auf, mustert die Statuen und beginnt zu plaudern: „Es war klar, dass die Bevölkerung damals zuerst nicht begeistert von dem Aufstand war." Harney lebt in Dublin und hat sich inzwischen an die Touristen gewöhnt, die durch seine Straße ziehen, um sich mit der Geschichte seines Heimatlands zu beschäftigen. Er runzelt die Stirn. „Das waren ja nur wenige, die sich bewaffnet auf den Weg gemacht haben. Als sie hier in der Innenstadt ankamen, haben die Leute gesagt: ‚Was wollt ihr hier, auf ein Pint vorbeischauen?‘". Dann machte die britische Armee ernst. „Die Leute waren außer sich", sagt Harney, „und sie gaben den Rebellen die Schuld daran." Bis die Stimmung umschlug, sollte es noch Wochen dauern.
Die Einschusslöcher ziehen sich heute durch die gesamte Innenstadt. Dort wuseln heute Tausende Besucher täglich über die Grafton Street – die Einkaufsmeile der irischen Hauptstadt. Flöten und Dudelsäcke säuseln dort zum Einkaufswahn, der auch vor dem Aufstand vor 100 Jahren nicht haltmacht. Souvenirstand reiht sich an Souvenirstand. Touristen kommen dorthin mit Bussen, auf denen „1916 – Aufstieg der Rebellen – Bustour" steht. Sie kaufen Schlüsselanhänger mit dem Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung, Kaffeetassen, T-Shirts, Kartenspiele, Stifte, Flaggen, Taschenuhren, Flachmänner und Regenschirme mit den Konterfeis der Aufständischen, die sich – ein Treppenwitz der Geschichte – einst auch gegen den Kapitalismus des britischen Imperiums gewehrt hatten.
„Wir würden so etwas niemals kaufen", stellt Kevin Harney klar und verzieht sein Gesicht. Auch andere Iren würden den Feiertag nicht kommerziell ausschlachten. Harney selbst gibt nicht viel auf die irische Unabhängigkeit. Der Koch hat auch schon in Deutschland und Spanien gearbeitet. „Ich sehe mich eher als Europäer", sagt der Sohn eines Mannes, der selbst im Gefängnis saß, weil er sich an der nordirischen Grenze gegen die Engländer aufgelehnt hatte, und wirft damit die Frage auf, ob es nicht fast schon antik anmutet, die Unabhängigkeit vom britischen Königreich noch heute zu feiern.
„Wir Iren sind, zumindest meiner Meinung nach, kein sehr patriotisches Volk", sagt Harney. Für Außenstehende möge das zwar anders wirken, aber Fahnenschwenken wie etwa in Amerika – damit könne man in Irland niemanden begeistern.
Auf der Suche nach Identität
Dass die Iren den Aufstand dennoch jährlich am Osterwochenende mit Militärparaden ehren, als wäre die Unabhängigkeit von Großbritannien das höchste Gut auf Erden, hat auch mit dem Verhalten der englischen Kommandeure zu tun. Als der Aufstand am 29. April 1916 niedergeschlagen war, ließen die Briten nach und nach die Rädelsführer erschießen. Die irische Bevölkerung schäumte vor Wut. „Das war der Moment, als es zum Wendepunkt in unserer Geschichte kam", sagt Historiker O’Halpin. Was folgte war der Unabhängigkeitskrieg, der schließlich zur Spaltung zwischen der Republik Irland und dem nördlichen Teil der Insel führte. Und die hat dank des Brexits wieder eine neue Brisanz erhalten.
Zurück im General Post Office ist der Touristenstrom auch nachmittags ungebrochen. „Es ist schon sehr emotional, was man hier mitbekommt", sagt John Slevin. Der 53-jährige Ire schlendert durch die Ausstellung, zu deren Besuch er seine gesamte Familie mitgeschleppt hat. Seinen Vater und seinen Sohn und damit drei Generationen, die einen jeweils anderen Blickwinkel auf die Unabhängigkeit haben. Während Großvater Slevin ein glühender Anhänger des freien Irlands ist, ist John zwar beeindruckt von den Taten der Rebellen, glorifizieren würde er sie aber keinesfalls. Sein Sohn Eamon (26) schließlich sieht sich und seine Generation viel stärker als Europäer denn als Iren. „Unser Nationalstolz ist im Lauf der Jahre immer weiter gesunken, während er andernorts im Moment eher steigt", sagt John Slevin. Doch oft setze man Nationalstolz mit Rassismus gleich. „Vielleicht ist gerade das der Grund, warum so viele Touristen aus dem Ausland kommen, um sich mit unserer Geschichte zu beschäftigen." Auf der Suche nach Romantik in nationaler Identität. Eine nationale Identität zu haben, ist auch Eamons Generation noch wichtig, gesteht der. Auch wenn heute etwas anderes entscheidend sei: „Wir sind zwar Europäer, aber was wir auf keinen Fall wollen, ist Bürger einer Monarchie zu sein." Als Englands Königin Elisabeth vor einigen Jahren im Dubliner Schloss versicherte, ihr tiefstes Beileid gehöre all denen, die infolge der schwierigen Vergangenheit gelitten hätten, half sie ein Stück weit dabei, den Graben zu verkleinern, der seit Jahrhunderten zwischen Irland und Großbritannien liegt. Doch vergessen wird es auch die aktuelle Generation noch lange nicht. Und wenn der Brexit dafür sorgen sollte, dass es wieder eine gesicherte Grenze zwischen der Republik Irland und dem Norden gibt, steht den Iren ein heißer Herbst bevor.