Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) drängt auf Reformen der EU. DIW-Präsident Marcel Fratzscher kritisiert das ständige „Nein" aus Deutschland und fordert eine Ende der Überheblichkeit.
Herr Prof. Fratzscher, braucht Deutschland Europa oder brauchen eher die Europäer die wirtschaftlich starken Deutschen?
Ersteres. Deutschland braucht ein starkes Europa, um international im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Wir dürfen eines nicht vergessen: In China, vor allem aber in den USA, werden derzeit die Entscheidungen getroffen, die zum Beispiel bei den Verbrauchssteuern nicht im Interesse Deutschlands sind. Wir brauchen deswegen in manchen, nicht in allen Bereichen, ein starkes Europa, um global bestehen zu können. Aber Europa funktioniert unterm Strich auch nur mit einem starken Deutschland.
Aber Deutschland zahlt doch kräftig in den großen EU-Topf ein.
Leider haben nicht wenige hier in Deutschland die verquere Idee von Deutschland als Zahlmeister Europas. Das stimmt so nicht. Wir sind die stärkste Volkswirtschaft und zahlen aus diesem Grund mehr ein als andere. Aber Deutschland profitiert im Vergleich zu anderen EU-Staaten auch am meisten von der EU. Fast jeder zweite Job in Deutschland und damit auch jeder zweite Euro hängt vom Export ab. Wir profitieren vom Euro, also Europa heißt bislang für Deutschland damit nicht Transferunion. Damit das so bleibt, bedarf es allerdings einiger dringender Reformen.
Welche sind das?
Wir brauchen in Europa eine Vergabe von Geldern, die tatsächlich in den strukturschwachen Regionen hilft. Das DIW schlägt deshalb einen Innovationspakt vor, der gezielt neue, qualifizierte Jobs in die schwachen Regionen bringt. Also auch in die strukturschwachen Regionen in Ost-, Nord-, aber auch Westdeutschland. Der Binnenmarkt muss sich innerhalb Europas noch weiter öffnen. Deutsche Unternehmen müssen zum Beispiel leichter ihre Produkte in Spanien, Portugal oder Schweden verkaufen können. Und wir brauchen einen stärkeren Euro. Der hat durch die Finanzkrise erheblich gelitten, und nun müssen wir alles dafür tun, dass unsere Währung wieder an Wert gewinnt.
Ein Vorwurf vom DIW ist, dass gerade die Deutschen in wirtschaftlicher Sicht weniger an Europa sondern eher an sich denken?
Wir Deutschen klagen ja immer darüber, dass andere Länder ihre Interessen wahren und vor allem Politik zu ihrem Vorteil betreiben. Stichwort US-Präsident Trump, der deutsche Autos mit Sonderzöllen belegen will. Dabei vergessen wir, dass Deutschland seit Jahren riesige Handelsbilanzüberschüsse hat. Wir verkaufen in einem erheblichen Umfang mehr in die Welt, als dass wir selbst im Rest der Welt einkaufen. Wir importieren so wenig, weil in Deutschland zu wenig investiert wird. Dazu kommt, dass viele Sektoren überreguliert sind, es gibt zu wenig Wettbewerb und übrigens auch zu wenig Einkommenssteigerungen bei den Arbeitnehmern. Obendrein denkt man nun noch in der Kategorie der „Nationalen Champions".
Sie meinen die geplatzte Fusion der Commerzbank mit der Deutschen Bank.
Das wird mir keiner so schnell erklären können, wieso man glaubt, dass zwei deutsche Banken, die beide nicht ganz unerhebliche Probleme haben, gemeinsam besser funktionieren können. Aber das war wieder so eine Form des deutschen Protektionismus. Wir packen Commerzbank und Deutsche zusammen, und die können dann global auftreten. Wir lassen gar nicht die Idee zu, dass ein potenter, ausländischer Inverstor vielleicht besser wäre für die eine oder andere genannte Bank. Die deutsche Politik predigt seit Langem Wasser und trinkt aber viel lieber Wein.
Welche Gefahren entstehen durch den deutschen Protektionismus für die Zukunft?
Dieser deutsche Protektionismus führt zu einem gefährlichen Reformstillstand in Europa. Seit Jahren machen Frankreich oder auch Spanien Reformvorschläge, und immer ist die deutsche Antwort: Nein. Sich am besten gar nicht bewegen, alles so lassen wie es ist, Nein zu Stabilisierungspolitik, Nein zu einer gemeinsamen Industriepolitik, Nein zu einer gemeinsamen Energiepolitik! Wir sind im Augenblick in Deutschland zu überheblich. Das Gefühl, es läuft doch alles gut, wir müssen uns doch nicht ändern, das ist eine Illusion. Deutschland wird sich im globalen Wettbewerb nur mit einem starken Europa behaupten können, und dafür muss sich die Bundesregierung endlich mal für europäische Reformen öffnen.
Wie werden sich nach Ihrer Einschätzung die Verhältnisse nach der Wahl sortieren?
Ich bin fest davon überzeugt, dass die großen Parteien, also die Konservativen, die Sozialdemokraten und auch die Liberalen, viel enger zusammenarbeiten müssen. Diesbezüglich muss sich Deutschland endlich mit den Reformvorschlägen von Frankreichs Präsidenten Macron auseinandersetzen – und vor allem auch reagieren. Kommt es dazu, dass die Populisten stärker werden, dann kommt es vor allem auf Deutschland an. Deutschland muss sich endlich bewegen.
Also auch einem EU-Mindestlohn zustimmen?
Nein, das auf keinen Fall, das kann nicht funktionieren. Ein Mindestlohn in Deutschland von 9,35 Euro mag moderat sein und könnte auch hier höher liegen. In Rumänien oder Bulgarien ist das undenkbar. Da muss man weiterhin nach Lösungen suchen, die auch die reale Wirtschaftskraft in den Regionen abbildet. Aber künftig müssen wir in Europa auf mehr Fairness zum Beispiel bei den Löhnen, aber auch Renten achten.