Viel Zeit für Machtpoker und Personalgerangel darf sich Brüssel nach der Wahl nicht lassen. Wirtschaftswissenschaftler mahnen mutige Entscheidungen an, wenn Europa nicht zurückfallen soll.
U-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist ein ordentlicher Mensch und hat eine vernünftige Übergabe seiner Amtsgeschäfte vorbereitet. Allerdings geht der 64-Jährige dabei auch eher unkonventionell vor: Er spricht zwar durchaus gerne über seine Leistungen als Kommissionspräsident, aber mehr noch darüber, was da in den letzten fünf Jahren so alles liegengeblieben ist. Sicherheit, sozialer Ausgleich und vor allem Klimaschutz müssen in den kommenden fünf Jahren verstärkt angegangen werden. Aber auch der Binnenmarkt muss weiter ausgebaut werden, um so Europas Einfluss in der Welt zu stärken.
Auch die EU-Staats- und Regierungschefs sahen das bei ihrem letzten Sondergipfel im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) ähnlich, ganz nach Junckers Grundanspruch: „Die Pflicht jeder Generation besteht darin, die Schicksale der Europäer – auch der kommenden Generationen – zum Besseren zu verändern und das beständige Versprechen von Frieden, Fortschritt und Wohlstand einzuhalten". Kurz vor Ende seiner Amtszeit wurde Juncker dann doch noch ein bisschen pathetisch. „Ich bleibe davon überzeugt, dass wir nur in der Gemeinsamkeit die Kraft finden werden, um unsere europäische Lebensweise zu erhalten, unseren Planeten zu bewahren und unseren Einfluss in der Welt zu stärken." In den Hauptstädten Europas wurden diese Einsichten mit Erstaunen zur Kenntnis genommen.
Leises Kopfschütteln auch bei Claudia Kemfert in Berlin-Mitte: „Warum hat Juncker dann in seiner Amtszeit nicht vehementer für die genannten Punkte gestritten?", fragt sich die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance in Berlin. Das Merkwürdige für die 50-Jährige ist, dass der EU-Kommissionspräsident in seiner beruflichen Schlussbetrachtung zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt wie ihre Kollegen vom DIW in einer aktuellen Studie. Und das absolut unabhängig voneinander (siehe Interview voherige Seiten). „Das belegt doch einfach nur, dass die unbewältigten Aufgaben in Europa mittlerweile so offensichtlich sind, dass nun tatsächlich mal dringend gehandelt werden muss", schlussfolgert Kemfert. Für sie definieren sich die globalen Herausforderungen der Europäischen Gemeinschaft durch drei Hauptaufgaben: erneuerbare Energien, Klimapfand und durch den zunehmenden Migrationsdruck. Alle drei Punkte „gehören unmittelbar zusammen und können auch nur in diesem Dreiklang gelöst werden", sagt die Energieökonomin. Um die Klimaziele zu erreichen, muss die Energiewirtschaft ausschließlich auf erneuerbare Energien setzen". Dies ist technisch möglich und kann sich ohne Weiteres für die Wirtschaft rechnen, so Kemfert.
Mit Klimapfand die CO₂-Emissionen drastisch senken
Vor allem bei der Verkehrswende müsse nun dringend etwas passieren. „Deutschland etwa muss dringend die Dieselsteuer erhöhen und den Schienenverkehr massiv ausbauen. Das gilt auch für die Elektromobilität. Dies kann man allerdings nur erreichen, wenn man auch eine Zulassungsquote für Elektrofahrzeuge auf der Straße einführt." Mit Blick auf ganz Europa mahnt die Professorin „ein Klimapfand als Abgabe auf die Nutzung emissionsintensiver Grundstoffe" an. Die Betonung liegt auf Klimapfand und nicht Klima- beziehungsweise CO₂-Steuer, wie sie derzeit diskutiert wird. Ähnlich wie beim Dosenpfand wird das Produkt als solches nicht teurer, sondern die Gebühr wird zurückerstattet. „Mit diesem Klimapfand könnten die CO₂-Emmissionen drastisch gesenkt werden, ohne dass wir die Verlagerung von Industrien ins Ausland befürchten müssen", ist sich Kemfert sicher. Auch müsse sich Europa umgehend einem Thema mehr annehmen als bisher. Der Migrationsdruck werde sich mit einer zunehmenden Erderwärmung weiter erhöhen. Vor allem aus Afrika würden immer mehr Menschen zu uns kommen wollen, weil sie eine lebenswerte Perspektive haben wollen. „Es macht nur wenig Sinn, wenn Deutschland einen Marshall-Plan für Afrika auflegt, damit können wir allein viel zu wenig erreichen". Ihr Vorschlag sieht einen Zusammenschluss der Länder Europas für eine koordinierte Afrikahilfe vor, mit dem man dann tatsächlich auch Erfolg haben würde.
Doch von solch einer Gemeinsamkeit ist die EU derzeit noch gefühlt Lichtjahre entfernt. Und die Aussichten, dass sich da etwas ändert, sind eher bescheiden. Abzusehen ist bereits jetzt, dass es in den kommenden Wochen nach der Europawahl zunächst um die Besetzung der EU-Kommission und ihrer Gliederungen geht. Was alles andere als einfach werden dürfte. Steht die politische Leitung Europas, wird sich die EU zunächst weiter mit sich selbst und dem weiterhin anstehenden Brexit beschäftigen. Dazu kommt eine nicht mehr wirklich kalkulierbare US-Wirtschaftspolitik mit den dazugehörigen angedrohten Strafzöllen und sonstigen Sanktionen. Betroffen davon ist schließlich auch China. Kann das bevölkerungsreichste Land der Welt aber seine Produkte nicht mehr in die USA verkaufen, wird man den Europäischen Markt noch stärker in den Blick nehmen als bislang. In der europäischen Stahlindustrie ist diese Dynamik längst angekommen. Andere Branchen werden es in den kommenden Monaten spüren. Da bleibt für die neue EU-Kommission, wenn sie dann steht, keine Zeit lang innezuhalten, um über diese Entwicklungen nachzudenken. Auch der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker weiß darum, schließlich wurde er fünf Jahre lang von den aktuellen Ereignissen getrieben, als dass er genügend Zeit gehabt hätte, Impulse für die Zukunft zu geben und diese dann auch voranzutreiben.