Alle Betriebe müssen laut EU-Gerichtsurteil die Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten dokumentieren. Wie das jedoch aussehen soll, darüber gibt es Zwist. Eine schnelle Umsetzung der Vorgabe ist jedenfalls nicht zu erwarten.
Wirklich vorstellen kann sich Bernhard von Manteuffel, Betriebsrat eines Berliner Energieberatungsunternehmens, die Rückkehr der Stechuhr nicht. Doch seit der Europäische Gerichtshof (EuGH) Mitte Mai urteilte, dass in den Mitgliedsstaaten jede für den Job aufgebrachte Zeit erhoben werden muss, herrscht Aufregung in den Personalabteilungen der Unternehmen. Die Regierungsparteien nutzen das Thema, um ihr Profil zu schärfen, und bringen sich konträr in Stellung. „Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern", gibt Arbeitsminister Hubertus Heil die Linie der SPD vor. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) konterte seinen Amtskollegen prompt: „Es ist der falsche Weg, die Stechuhr wieder einzuführen."
Zumindest Bernhard von Manteuffel würde Altmaier wohl zustimmen, er kann mit der derzeitigen Regelung seiner Firma gut leben. „Wir schreiben die Arbeitszeit einmal wöchentlich auf", sagt der Mittdreißiger, „der Chef kontrolliert die Aufstellung und das war es." Die Beschäftigten seien häufig zu Hause oder unterwegs bei Kunden tätig. Es gebe zwar digitale Erfassungsmöglichkeiten, doch nötig seien sie nicht. Flexibilität bei der Arbeitszeit erwarten längst nicht mehr nur die Arbeitgeber: „Unser neuer Geschäftsführer besteht darauf, dass wir morgens pünktlich zur selben Zeit anfangen und abends pünktlich aufhören", schimpft die Mitarbeiterin einer Incentive-Agentur, die für Firmen Veranstaltungen ausrichtet. Der strenge Rahmen gehe zulasten der privaten Lebensqualität.
Der durch das Urteil entstehende Regelungsbedarf ist längst noch nicht ausgemacht. Der Streit darüber wird daher noch eine Weile andauern. Der EuGH-Spruch sagt im Kern, dass die Arbeitgeber ein „objektives, verlässliches und zugängliches System" installieren müssen, um jede Arbeitszeit, also auch den Mail-Check am Abend oder das Telefonat am Wochenende, zu registrieren. Anlass des Verfahrens war die Klage einer spanischen Gewerkschaft gegen die Deutsche Bank. Die Gewerkschaft hatte die Erfahrung gemacht, dass in Spanien mehr als die Hälfte der Überstunden gar nicht erfasst, also auch nicht entgolten werden. Das schlägt nun EU-weit durch – wie die EU-Mitgliedsstaaten die Vorgabe erfüllen, überlassen die Richter den einzelnen Ländern.
Streit um Flexibilität oder Flatrate-Arbeit
Womöglich reicht die geltende Gesetzeslage in Deutschland schon als Rahmen für die Umsetzung der EuGH-Ansprüche aus. Das Arbeitszeitgesetz regelt zwar nicht direkt die Dokumentation jeder dienstlich veranlassten Minute Beschäftigung, indirekt sorgt sie dennoch für den gewünschten Schutz der Arbeitnehmer. „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Überstunden zu notieren", erläutert Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Dazu müsse er zwangsläufig die reguläre Arbeitszeit feststellen. Der Unterschied zu den Anforderungen der Luxemburger Richter besteht demnach lediglich darin, die Gesamtarbeitszeit täglich zu messen und nicht nur die geleistete Mehrarbeit.
Diese kleine Änderung kann nach Ansicht von DGB-Vorständin Annelie Buntenbach schon viel bewirken. In Betrieben ohne Arbeitszeiterfassung blieben die Interessen der Beschäftigten viel zu oft auf der Strecke, stellt sie fest, dadurch entstehen in Deutschland massenhaft unbezahlte Überstunden und es wird oft erwartet, dass die Arbeitnehmer auch außerhalb ihrer Arbeitszeit erreichbar sind. Von einer schärferen Regelung erhofft sich Buntenbach ein Ende von „Lohn- und Zeitdiebstahl" oder einer Gesundheitsgefährdung durch zu viel Arbeit. Die Statistik bestätigt das Problem unentgeltlicher Mehrarbeit: Rund zwei Milliarden Überstunden jährlich weist die IAB-Bilanz dazu aus. Pro Tag arbeiten die 45 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland je 30 Minuten bezahlt und unbezahlt zusätzlich für ihren Betrieb. Dazu kommt noch eine weitere Stunde Mehrarbeit, die durch Freizeit an anderer Stelle ausgeglichen wird.
Doch das Zahlenwerk gibt nicht die ganze Wirklichkeit wieder. „Unbezahlte Überstunden werden vor allem von Führungskräften verlangt", sagt Weber. Häufig finde sich in deren Arbeitsverträgen auch eine Klausel, derzufolge Mehrarbeit mit dem Gehalt abgegolten sei. Das Arbeitszeitgesetz gilt für das leitende Personal auch gar nicht. Auch die Ruhezeitregelungen berühren die Spitzenleute in den Betrieben nicht. Diese sehen eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden und eine Mindestpause von elf Stunden täglich zwischen den Schichten vor.
Doch in einzelnen Berufsgruppen gehört reichlich Mehrarbeit zum Alltag. Dazu gehören etwa die Lokführer der Deutschen Bahn. Bis zu 14 Stunden dauern nach Angaben des Chefs der Lokführergewerkschaft GDL die Schichten. Alle Einsätze würden bei der Bahn schon immer minutiös erfasst. Anders sieht es bei den Krankenhausärzten aus. Deren Vertretung, der Marburger Bund, ermittelte für das Jahr 2017 eine Wochenarbeitszeit von 49 Stunden und mehr bei 60 Prozent der Ärzte in den Kliniken. Immer wieder beklagen die Mediziner, dass Überstunden verlangt, aber nicht dokumentiert werden. Entsprechend nachdrücklich setzt sich der Verband nun für eine Umsetzung des EuGH-Urteils ein.
Auch die Arbeitnehmer sind sich nicht einig
Aufseiten der Arbeitgeber stößt diese Forderung auf Ablehnung. Die wichtigsten Verbände laufen Sturm gegen eine weitere Regulierung, an der Spitze die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA). „Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 kann man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren", wettert BDA-Chef Ingo Kramer. Der Verband der Familienunternehmen sieht einen Rückschritt zulasten der Arbeitnehmer. Deren Bedürfnis nach Flexibilität und nach einer guten Vereinbarkeit von Beruf und Familie würde mit einer genauen Zeiterfassung behindert. Dabei ist die Zeiterfassung auch heute schon weit verbreitet. Fast jeder zweite Betrieb erhebt laut Bundesamt für Arbeitsschutz die Zeiten genau. In 30 Prozent der Firmen notieren die Beschäftigten selbst, wie lange sie tätig waren. Nur jedes fünfte Unternehmen verzichtet darauf ganz. Beim Modell der Vertrauensarbeit werden beispielsweise zwischen Chef und Angestelltem Ziele vereinbart. Wie viel Zeit für deren Erreichen benötigt wird, spielt keine entscheidende Rolle.
Die bisherige Praxis legt nahe, dass das EuGH-Urteil die Arbeitswelt nicht durcheinander bringen wird. Womöglich ist die Aufregung darum auch nur eine Aufwärmübung für die eigentliche Auseinandersetzung um das Arbeitszeitgesetz. Denn die starre Pausenregelung würden die Arbeitgeber gerne aufweichen, weil sie ihrer Auffassung nach nicht mehr in die heutigen Abläufe in den Betrieben passen, die ja beispielsweise häufig rund um die Uhr in den verschiedenen Zeitzonen dieser Welt aktiv sind. Mehr Flexibilität ist daher gewünscht. Umgekehrt wollen die Gewerkschaften „Flatrate-Arbeit und Dauererreichbarkeit" vermeiden. Dabei soll eine Umsetzung des Urteils helfen.
Ein neues Gesetz wird es vorerst kaum geben. Der EuGH hat mit seinem Urteil keine Frist zur Umsetzung vorgegeben und die Partner in der großen Koalition liegen mit ihren Vorstellungen weit auseinander. Da im Koalitionsvertrag lediglich Experimentierfelder für flexiblere Modelle vereinbart wurden, ist mit einer ernst zu nehmenden Gesetzesinitiative nicht zu rechnen.
Technisch wäre eine Erfassung kein Problem. Die Systeme für die Messung der Arbeitszeit machen die gute alte Stechuhr überflüssig. Per App oder die Einwahl in die Betriebssoftware oder sogar den Scan von Fingerabdruck oder Auge lässt sich der Einsatz für den Arbeitgeber längst überall und zu jeder Zeit kontrollieren.