Ausgerechnet die unter dem Namen „Special K" berühmt-berüchtigte Partydroge Ketamin verspricht ein neues, im Unterschied zu allen gängigen Antidepressiva, extrem schnell wirkendes Wundermittel für die Behandlung schwerster Depressionen zu sein.
Seit der Markteinführung des Antidepressivums Prozac im Dezember 1987 in den USA hat es weltweit keine wirklichen pharmazeutischen Innovationen für die Behandlung von Depressionen mehr gegeben. Mit seinem Wirkstoff Fluoxetin versprach der Pharmakonzern Eli Lilly seinerzeit wirksame Hilfe für Betroffene mit vergleichsweise geringen Nebenwirkungen durch die Wiederherstellung des Serotoningleichgewichts im Gehirn. Auch wenn man heute weiß, dass ein zu niedriger Wert von Serotonin oder anderen Botenstoffen wie Noradrenalin allein noch keine Depressionen auslösen kann. Dennoch wurde Prozac, das in Deutschland unter dem Namen Fluctin verkauft wurde, ein Mega-Erfolg, die „Süddeutschen Zeitung" sprach jüngst von der „Volksdroge Prozac". Prozac war der erste Vertreter der sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (Selective Serotonin Reuptake Inhibitor, SSRI), inzwischen ist eine ganze Reihe von Medikamenten mit ähnlichem Wirkprinzip erhältlich.
Nach mehr als 30 Jahren wurde im März 2019 durch die amerikanische Medikamentenbehörde FDA erstmals wieder ein neues Mittel gegen Depressionen zugelassen. Eine wissenschaftliche Sensation und neue Hoffnung für schwerstkranke Patienten gleichermaßen. Zumal die von der belgischen Firma Janssen Pharmaceuticals, einem Tochterunternehmen des US-Pharmakonzerns Johnson & Johnson, entwickelte Substanz eng mit dem altbekannten, überwiegend in der Tiermedizin eingesetzten Narkosemittel Ketamin verwandt ist, das wegen seiner halluzinogen-psychedelischen Wirkungen schon seit den 70er-Jahren und vor allem seit den 90er-Jahren weltweit als Partydroge unter dem Namen „Special K" mega-angesagt ist.
Ende der 90er-Jahre hatte der US-Neurobiologe Dr. John H. Krystal, der heute unter anderem als Professor an der Yale University in New Haven tätig ist, rein zufällig bei der Behandlung von Schizophrenie-Patienten festgesellt, dass sich deren Gesundheitszustand durch geringe Gaben von Ketamin verbessern ließ. Gemeinsam mit seinem Kollegen Carlos Zarate vom National Institute of Mental Health in Bethesda begann er danach mit dem probeweisen Einsatz von Ketamin auch bei Depressionspatienten – wobei die beiden Wissenschaftler vor allem nachweisen konnten, dass sich durch Verwendung von Ketamin im Vergleich zu allen gängigen SSRI-Antidepressiva, die bei rund einem Drittel der Betroffenen gar nicht anschlagen und bei den anderen ihre Wirkung erst nach vier bis acht Wochen zeigen, ungemein schnelle Resultate erzielen lassen.
Die genaue Funktionsweise von Ketamin war unbekannt. Im Unterschied zu den gängigen Antidepressiva sollte es seine Wirkkaskade im Gehirn nicht über Serotonin oder Dopamin, sondern über den Botenstoff Glutamat in Gang setzen. Über etwaige Spätfolgeschäden oder mögliche Suchtgefahren gab es keinerlei Wissen. Den leichten Rausch auf Rezept hatten in den USA, wo sieben Prozent der Erwachsenen, sprich 16 Millionen Menschen, an klinischen Depressionen leiden, vor der Ketamin-Zulassung schon mehr als 3.000 Betroffene in Dutzenden Kliniken oder in Privatpraxen erhalten können.
Auch in Berlin wird Ketamin schon seit rund fünf Jahren an der Charité von Prof. Malek Bajbouj, dem Leiter des Bereichs Affektive Neurowissenschaften, bei Heilversuchen eingesetzt, insgesamt wurden bislang 150 Patienten damit behandelt. In Köln war 2015 durch Dr. Frank G. Mathers, einem Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin, die erste Ketamin-Praxis der Republik eröffnet worden.
Rasche Wirksamkeit von Ketamin überraschte die Forscher
Erste kleinere Studien hatten die Wirksamkeit von Ketamin belegt, in Berlin taxierte Prof. Malek Bajbouj die Erfolgsquote bei seinen Probanden auf zwischen 35 und 50 Prozent. Vor allem über die schnelle Wirkung von Ketamin war man weltweit überrascht, eine Linderung der Symptome konnte teilweise schon binnen 24 Stunden nachgewiesen werden. Allerdings hielt der positive Effekt nicht lange an, in der Regel nur wenige, maximal zehn Tage. Dennoch waren sich die meisten Experten weltweit darüber einig, dass Ketamin ein neues, vielversprechendes Mittel in der Depressionsbekämpfung darstellen kann. Laut dem Ketamin-Forscher Gerard Sanacora von der Yale School of Medicine ist es „die spannendste Behandlung für Störungen des Gemütszustandes der vergangenen 50 Jahre". Zu dieser Einschätzung war offenbar auch die amerikanische Zulassungsbehörde FDA gekommen, deren Mitglied, der Psychologe Dr. Walter Dunn von der University of California in Los Angeles, folgendes Statement abgegeben hatte: „Esketamin hat das Potenzial, ein Wendepunkt bei der Behandlung von Depressionen zu sein." Kein anderes bisher bekanntes Medikament könne dem Patienten schnellere Hilfe anbieten. Dies kann vor allem auch bei akut Suizidgefährdeten enorm wichtig sein, schließlich ist die Selbstmordquote in den USA zuletzt angestiegen.
Als die FDA Ketamin als erster psychoaktiver Substanz überhaupt die Zulassung erteilte, hatte das US-Unternehmen Johnson & Johnson den Wettlauf um ein marktfähiges Medikament in Gestalt eines auf den Markennamen „Spravato" getauften Nasensprays gewonnen. Es enthält den Wirkstoff Esketamin, eine Spiegelbild-Version des Ketamins in deutlich niedriger dosierter Variante. Es darf bei schweren Formen der Erkrankung eingesetzt werden, sofern die Patienten zuvor schon erfolglos mit mindestens zwei herkömmlichen Antidepressiva behandelt wurden. Auch für den Bereich der EU wurde bereits ein Antrag für die Zulassung eingereicht. Laut Prof. Malek Bajbouj kann es aber noch eine geraume Zeit dauern, bis aus Brüssel grünes Licht für Ketamin kommen wird.
Dieses darf nur unter ärztlicher Aufsicht verabreicht werden, die Patienten müssen für einige Stunden unter medizinischer Beobachtung bleiben, weil die Substanz halluzinogen wirkt. Bei Betroffenen mit zusätzlichen Angststörungen ist der Einsatz daher mehr als problematisch, auch bei Patienten mit einer langen, schweren Krankheitsgeschichte schlägt Ketamin häufig nicht an. Da der positive Effekt nur einige Tage anhält, müssen Ketamingaben normalerweise wiederholt werden. In welcher Frequenz und über welchen Zeitraum das sinnvollerweise gemacht werden sollte, muss erst noch genauer erforscht werden. Auch eine mögliche Suchtgefahr muss künftig noch geklärt werden.
Eine neue, Mitte April 2019 im Magazin „Science" veröffentlichte Studie des Weill Cornell Medical College der Cornell University in New York unter Leitung der Neurowissenschaftler Conor Liston und Rachel Moda-Sava hat erste Erkenntnisse über die mögliche Wirkungsweise von Ketamin geliefert. Die Forscher konnten im Versuch mit durch Dauerstress auf Depression vorab getrimmten Mäusen feststellen, dass sich in deren Gehirnen nach Ketamingaben bestimmte Vorwölbungen auf Nervenzellen, Dornfortsätze oder Dentrische Dornen genannt, gebildet hatten, die ganz wichtig für die Signalübertragung zwischen Nervenzellen sind. Bei depressiven Menschen liegt ein Mangel an diesen Fortsätzen vor. Bei den Tieren konnte durch Ketamin zumindest ein Teil der Fortsätze wieder neu gebildet werden, was über die Wiederherstellung der Kommunikation zwischen den Nervenzellen ein Schwinden der Depressions-Symptome zur Folge hatte. Allerdings blieben nur 45 Prozent der Fortsätze mindestens vier Tage erhalten, der Rest ging rasch wieder verloren. Das könnte die von den Forschern beobachtete plötzliche Rückkehr depressiver Symptome eine Woche nach der Ketamingabe erklären.
Die Wissenschaftler sehen es daher als vordringlichste Aufgabe künftiger Depressionsbekämpfungsansätze an, den schnellen Verfall der Fortsätze mit ganz speziellen Therapien langfristig zu unterbinden. „Wir müssen einen Ansatz dafür finden, die erzielten Veränderungen im Gehirn stabil zu erhalten", so der nicht an der Studie beteiligte Prof. Malek Bajbouj. Bajbouj hat zudem angeregt, dass man nun auf Grundlage der neuen Studie auch dringend überprüfen müsse, ob sich die Dornenfortsätze auch nach Verabreichung herkömmlicher Antidepressiva so rasch wie bei Ketamin wieder bilden könnten. „Falls dem so ist", so Bajbouj, „würde das bedeuten, dass andere Faktoren für die schnelle Wirkung von Ketamin entscheidend sind."