Der Badeort Zandvoort ist für seinen kilometerlangen Strand bekannt – und für den Circuit, die legendäre Motorsport-Rennstrecke, die im kommenden Jahr wieder Austragungsort der Formel 1 wird.
Bleigrau hatte sich der Himmel am frühen Morgen gezeigt, und grau schien er dieser Tage zu bleiben. Aber das Nordseewetter ist immer für eine Überraschung gut. Nachmittags kommt Bewegung ins Spiel, die Wolkendecke reißt auf und gegen Abend zeichnet die Sonne eine goldene Spur aufs Wasser, vom schäumenden Meeressaum bis zum Horizont. In den Strandpavillons unterhalb der Promenade, wo Kaffee und Kuchen, kühles Bier und Fritten oder feine Gerichte serviert werden, beginnt der Hochbetrieb. Einheimische und Urlauber wollen an diesem noch kühlen Frühlingssamstag einen Sundowner mit Meerblick genießen, auf einer bequemen Lounge-Liege in eine Decke gekuschelt und von einer Glaswand vor Böen geschützt – so mag man es hier in Zandvoort aan Zee, am „Strand von Amsterdam". Diesen Beinamen gibt sich der Badeort an der nordholländischen Küste gerne. Denn die Anreise mit dem Zug von Amsterdams Centraal Station dauert gerade mal eine halbe Stunde – nicht länger als eine Straßenbahnfahrt ans andere Ende der Grachtenstadt. Als Seebad hat Zandvoort eine lange Tradition. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde in dem einstigen Fischerdorf das erste Badehaus errichtet. In den folgenden Jahrzehnten stellten sich betuchte und prominente Gäste aus dem In- und Ausland zu Badekuren ein. Auch Österreichs Sisi, die an den renommiertesten Badeorten Europas frische Kräfte tankte, hat hier Reizklima und Nordseewasser auf den kaiserlichen Körper wirken lassen. Von der alten Pracht allerdings hat sich Zandvoort zumindest architektonisch so gut wie nichts bewahrt. Verspielte Bädervillen, vornehme Hotels, die charmante Einkaufspassage, die einst den Zandvoorter Bahnhof mit dem strandnahen Kurhaus verband – all das gibt es schon lange nicht mehr.
Verantwortlich dafür war Hitlers Kriegsmaschinerie. Nachdem die Deutschen 1940 in die neutralen Niederlande einmarschiert waren, trieben sie hier mit äußerstem Ehrgeiz die Errichtung ihres „Atlantikwalls" voran. Die Invasion der Alliierten würde an der niederländischen Küste stattfinden, meinten Hitlers Generäle, ließen Bunker, Radaranlagen, Flak-Geschütze an Hollands Küsten errichten und Zandvoort aan Zee zu einer Festung ausbauen. Die meisten Einwohner wurden evakuiert, der Zugang zum Strand war ab 1942 untersagt. Und weil die Gebäude entlang der Strandpromenade den Besatzern die freie Sicht aufs Meer versperrten, sprengten sie die erste Reihe mit all ihren Luxushotels und Villen und machten auch dahinterliegende Straßenzüge mit Pensionen, Wohnhäusern und Wasserturm dem Erdboden gleich. Für den Gebäudeschutt hatten die Nazis Verwendung, sie planten schon den Bau einer breiten Straße, über die nach dem Endsieg der deutsche Triumphzug rollen sollte. Die Antwort der Alliierten auf Hitlers größenwahnsinnige Pläne waren Bombenangriffe. Nach Kriegsende hatten es die Niederländer verständlicherweise eilig mit dem Wiederaufbau, schmucklose Gebäuderiegel aus den 50er- und 60er-Jahren und ein paar Hochhäuser aus den 70ern prägen bis heute die Skyline des einst mondänen Badeorts. Eindrucksvoll wie eh und je ist der Strand, neun Kilometer lang und durchschnittlich 90 Meter breit. Strandsegler, Kitesurfer, Kitebuggyfahrer – wer sich gern bei Wind und Wetter durchpusten lässt, findet hier zu beinahe jeder Jahreszeit die perfekte Spielwiese.
Im Zweiten Weltkrieg wurde vieles zerstört
Eine weitere Attraktion liegt am nördlichen Ortsrand, gleich hinter dem Strand – der Zandvoort Circuit, die Motorsport-Rennstrecke in den Dünen. Über Jahrzehnte hat die Piste mit ihren spektakulär geschwungenen Kurven Formel-1-Geschichte geschrieben. Graham Hill, Jackie Stewart, Jack Brabham und später Nicki Lauda, Alain Prost und Ayrton Senna – Rennfahrer-Legenden haben hier den Großen Preis der Niederlande ausgetragen, ihre Boliden durch spektakuläre Kurven gejagt. Durch die Scheivlak, die „Tarzanbocht", eine der berühmtesten Kurven der rennsportbegeisterten Welt. So manchem ist der Circuit zum tödlichen Verhängnis geworden. 1970 verlor der Brite Piers Courage auf dem unebenen Asphalt des Tunnel Oost, der Hochgeschwindigkeitsstrecke, die Kontrolle über sein Fahrzeug. Der knallrote De Tommaso 505 raste in die Dünen und wurde von dort zurück auf die Fahrbahn katapultiert, wo er zerbrach und in Flammen aufging. Der 28-jährige Courage, der seit 1968 für das Team seines Freundes Frank Williams an den Start gegangen war, konnte nur noch tot geborgen werden. Drei Jahre später verunglückte sein Landsmann Roger Williamson beinahe an derselben Stelle. Der Formel-1-Neuling fuhr für das Team des britischen Rennwagenbauers March. In der achten Runde des Rennens platzte der linke Vorderreifen, der Wagen rammte im Tunnel Oost in die Leitplanke, prallte ab, segelte durch die Luft, überschlug sich und fing Feuer. „Dass das Rennen nicht abgebrochen wurde und die Feuerwehr erst vier Minuten später an Ort und Stelle war, ist einem tragischen Missverständnis geschuldet", sagt Kees Koning, PR-Mann und Rennleiter des Zandvoort Circuits. „Ein Streckenposten hatte einen Mann im Rennfahreranzug am Rand der Fahrbahn laufen sehen und angenommen, das sei Williamson, der sich aus seinem verunglückten Fahrzeug gerettet hatte." In Wirklichkeit aber war es ein ganz anderer, der da lief – David Purely, ein Rennfahrer-Kollege, der Augenzeuge des Unfalls geworden war. Purely hatte den eigenen Wagen abgestellt und zur Unfallstelle geeilt, versuchte verzweifelt, die Flammen zu löschen. Als die Feuerwehrleute eintrafen, war Williamson bereits im Wrack seines March 731 erstickt.
In den folgenden Jahren wurde einiges verändert, am Streckenverlauf, am Belag, an der Kommunikation der Streckenposten. Trotzdem verabschiedete sich die Formel 1 mit der Saison 1985 von der holländischen Rennarena. Doch nun kehrt sie zurück an die holländische Küste. 2020 wird Zandvoort wieder Austragungsort der Formel 1 sein. Bis dahin füllen diverse hochkarätige Motorsportveranstaltungen den Veranstaltungskalender. Zu den Highlights 2019 gehören die „Jumbo Racing Days", bei denen auch Lokalmatador Max Verstappen mit seinem Red-Bull-Formel-1-Rennwagen an den Start geht, sowie die ADAC GT Masters, bei denen getunte Sportwagen von Autobauern wie Audi, BMW, Corvette, Ferrari, Lamborghini, Mercedes-AMG, Porsche mit brüllenden Motoren über die Piste brausen. Ein weiterer Publikumsmagnet ist der „Historic Grand Prix" Anfang September. „Ein Mehr-Generationenspektakel", schwärmt Koning. „Großväter kommen mit ihren Enkeln, zeigen, wie die Rennwagen aussahen, mit denen die Idole ihrer Jugend Formel-1-Rennen gefahren sind."
An vielen Tagen im Jahr steht der Zandvoort Circuit ganz normalen Autonarren offen. Beim „Freien Fahren" kann, wer sich traut, mit dem eigenen Wagen an den Start gehen – für 35 Euro Gebühr 20 Minuten die eine oder andere rund vier Kilometer lange Runde drehen. Wer noch mehr Adrenalin spüren will, leiht sich einen 911er, einen Lamborghini, einen Ferrari oder ein anderes Hochleistungsfahrzeug aus. Ein Fuhrpark von rund 150 Sportwagen steht bereit. Jeder, der einen gültigen Führerschein besitzt und das nötige Kleingeld investiert, kann sich hinters Steuer setzen. Allerdings darf man sich erst nach einer kleinen Sicherheitslektion durch die Sicherheitsprofis auf der berühmten Strecke ausprobieren. Alternativ kann man als Co-Pilot in einen Lamborghini Huracán, einen 670-PS starken Ferrari 488 GTB oder einen McLaren 540C steigen und an der Seite eines erfahrenen Rennpiloten mit Affenzahn durch die „Tarzanbocht" driften. Race Experience heißen derlei Vergnügungen und die werden von Motorsportfans aus dem In- und Ausland gern gebucht.
Während Koning und seine Kollegen am nördlichen Ortsrand von Zandvoort die Dezibel-Belastung nur mit scharfen Kontrollen unter den genehmigten Grenzwerten halten können, geht es am südlichen Ortsrand geräuscharm zu. Das Naturschutzgebiet Amsterdamse Waterleidingduinen ist ein riesiges, grünes, von Kanälen durchzogenes Dünengebiet, Brutgebiet zahlreicher Wasservögel und wichtiges Trinkwasserreservoir für den Großraum Amsterdam. Einst ging Hollands Adel hier auf die Jagd, im 19. Jahrhundert legte man auf dem sandigen Grund Hollands erste Pferderennbahnen an, heute gehen Einheimische und Urlauber auf dem sanft gewellten Terrain spazieren. „Auch picknicken ist erlaubt", sagt Naturführer Co Warmerdam. Wer mit dem drahtigen Pensionär unterwegs ist, kann sich Besonderheiten der Flora und Fauna – oder auch die Reste der von den Deutschen errichteten Bunker – zeigen lassen. Dort, wo die Dünen höher aufragen, wo sich Damwild im Wäldchen versteckt, deutet Warmerdam auf türlose Einstiege, die in die einstigen Vorrats-, Munitions- und Wohnbunker führen. Längst ist Gras über die unterirdischen Betonburgen gewachsen. Unheimlich wirken sie noch immer.