Eine Entdeckungsreise in den Mikrokosmos macht vertraute Welten ganz anders erlebbar: Im Leipziger Panometer zeigt Yadegar Asisi in „Carolas Garten – Rückkehr ins Paradies" Natur aus der Perspektive eines Insekts.
Sie müsste rund 25 Meter lang sein, die Biene, aus deren Blickfeld der Betrachter von der Plattform inmitten des Panoramas das Geschehen ringsum wahrnimmt. Eine gigantische Biene, die gerade eine noch gigantischere Kamillenblüte bestäubt, den Nektar darin einsammelt. Ringsum ein prächtiges Gartenuniversum, liebevoll angelegt mit riesigen bunten Blumen, Sträuchern, Wild- und Nutzpflanzen. Emsig werkelnde Ameisen, Spinnen und Raupen. Das Leben in seiner kleinsten Form, das normalerweise vor den Füßen der Menschen abläuft, wird hier lebendig – die ganze Welt der Mikroben, Viren und Bakterien bis zur hochentwickelten Lebensform eines Käfers.
Zu einem Garten gehört auch ein Teich, umrahmt von Kieselsteinen, im Wasser dümpeln Goldfische, am Rande scheint Schilfgras von einer leichten Brise bewegt zu werden. Schnecken werden von hohen Disteln überragt. Auf den Blättern krabbeln Ameisen. Dicht stehen goldgelber Löwenzahn und feuerroter Mohn beieinander. Eine Königskerze ragt erhaben zwischen Rosenstrauch und Pusteblumen empor – deren kleine Schirmchen segeln scheinbar in Zeitlupentempo zu Boden.
Wasser blubbert durch einen Gartenschlauch und besprengt angepflanzte Blumen und wild wachsendes Kraut. Gleich daneben baumelt Wäsche von einer Leine, leuchtend bunte Schmetterlinge scheinen förmlich in der Luft zu tanzen.
Inmitten der Idylle sitzt ein kleiner Junge mit Sonnenhut und Smiley auf seinem Hemd auf einer Hollywoodschaukel. Daneben sein Dreirad und ein alter Kipplaster aus DDR-Zeiten. Der Junge beobachtet aufmerksam das emsige Treiben inmitten der Gartenlandschaft. Eine Katze setzt zum Sprung an, die grauen Augen fokussiert auf die Beute. Eine Schubkarre deutet darauf hin: Hier wird gearbeitet. Unübersehbar der Komposthaufen mit Kartoffelschalen. Dazwischen ein ausgelatschter Turnschuh. Regenwürmer, Fliegen, Mist- und andere Käfer haben sich längst an die Essensreste gemacht. Frösche quaken, Vögel zwitschern. Ein Miauen, ein Surren und Summen ringsum gemischt mit hintergründigem Pianosound.
Der Garten ist nicht erfunden, es gibt ihn wirklich. In der DDR war die Datsche mit Garten die Parzelle für das kleine Glück. Versorgungsquellle und private Nische für ein Stück heile Welt. In Leipzig, wo die Schrebergartenbewegung einst ins Leben gerufen wurde, liegt Carolas Garten am Stadtrand, gleich neben einer Plattenbausiedlung.
Der Garten gehörte einer engen und langjährigen Mitarbeiterin im Team von Panorama-Künstler Yadegar Asisi. „Sie war unsere ,gute Seele‘, eine Frau, die mit Würde und zugleich großer Last auf dem Rücken eine unglaubliche Energie hatte. Von Anfang an hat sie sich um alles gekümmert, hielt alle Fäden in der Hand und war stets ansprechbar für alle, immer mit einem bewunderungswürdigen und verlässlichen Gleichmaß an Geduld und Freundlichkeit. Ich habe mich oft gewundert, woher sie wohl diese Großzügigkeit hatte", so erinnert sich Asisi.
Das Wunder Natur in einem Stück Garten
Den Garten der langjährigen Mitarbeiterin besuchte Asisi erst nach ihrem Tod. „Ich wollte verstehen, was sie daran geliebt und was ihr so viel bedeutet hat und begriff das Geheimnis ihrer Energie und Großherzigkeit. Hier muss sie sich aufgeladen haben mit der ihr innewohnenden Zufriedenheit. Der Garten war Carolas Kraftquelle. Auch wir können diese Energiepunkte, diese ganz kleinen Augenblicke für uns nutzen, würden wir unsere Sinne öffnen."
Lange erklären will der Berliner Künstler sein Panorama aber nicht. Das Interpretieren überlässt er dem Betrachter. „Doch alles, was mich je inspiriert hat, steckt in diesem Garten", sagt er. Auch wenn er – wie er zugibt – selbst keinen grünen Daumen hat. „Wir glauben, wir müssten die Welt erobern mit Revolutionen und Kriegen, doch sollten wir erst einmal das Wunder in einem so banalen Stück Garten begreifen, in dem die Insekten, Bakterien, Bienen, Pflanzen die Hauptakteure sind. Man bräuchte nur seinen Kopf ins Gras zu halten, um zu wissen, dass die Natur das Mächtigste ist, was je auf der Erde existierte. Und dabei sehen wir zu, wie sie zugrunde geht", so die Befürchtungen des Künstlers.
Er bezeichnet das Garten-Paradies- Panorama auch als eine Schule des Sehenlernens. Als einen Ort des Erfahrens, des Erkennens und der Rückkehr zum Ursprung. „Carolas Garten" – das ist für Asisi eine Allegorie. Ein Bilderteppich, ein Ausdruck für die menschliche Seele, auch für den natürlichen Lauf vom Geborenwerden bis zum Sterben.
Der ursprünglich aus dem Iran stammende Künstler wuchs in der DDR auf. Den Weg fand er und findet er immer noch über die Kunst – es sei das Zeichnen, beschreibt er es, das ihn überall hin begleitete. „Ich zeichne, male, fotografiere – ohne schon vorher zu planen, was daraus entstehen soll. Das Ganze ist intuitiv. Und ich glaube, man muss schon ein bisschen verrückt sein, um solche Projekte zu realisieren. Doch zum Glück habe ich auch ein paar Verrückte an meiner Seite."
Damit meint er sein engagiertes Team, das je nach Thema aus wechselnden Experten besteht – jetzt beispielsweise, beim Paradies-Garten, gehören Biologen und Insektenforscher mit dazu, aber auch ein Tierpräparator und ein Sound-Designer. „Ich empfinde es als großes Glück, Menschen mit so unterschiedlichem Hintergrund zu meinem Team zählen zu können", sagt der Künstler.
Yadegar Asisi wurde mit seinen riesigen Panoramen berühmt. Seit 2003 erschafft er die weltgrößten 360-Grad-Raumwelten. Was in einem denkmalgeschützten, ehemaligen Gasometer in Leipzig begann, hat sich zu einer Künstlerwerkstatt entwickelt, die immer wieder neue Panoramen und Videoinstallationen entwirft – zu sehen beispielsweise in Berlin, Rouen oder New York.
Alte Tradition des Panoramabildes
Asisi führt Welten zusammen, wie es im Mittelalter das Universalgenie Leonardo da Vinci tat. Als Architekt hat er zahlreiche Preise gewonnen, er arbeitete unter anderem für Daniel Libeskind an Visualisierungen des Ground Zeros. Und als Professor für Architektur lehrte er zwölf Jahre lang. Aber beide Karrieren gab er auf, um die Menschen das Staunen zu lehren.
So beeindruckte er in Dresden mit der minutiösen Darstellung der barocken Residenz, ließ Besucher die Zerstörung der Stadt im Jahr 1945 nachvollziehen. In Berlin konnten Besucher das Leben in der zweigeteilten Stadt nachempfinden – in den Leipziger Asisi-Panoramen erlebte man die Völkerschlacht, wähnte sich im alten Rom oder im tropischen Regenwald des Amazonas. Zum Reformationsjubiläum erinnerte Asisi an die Geschehnisse von vor 500 Jahren, nach dem Thesenanschlag Luthers in Wittenberg, und ließ wenig später in Berlin die antike Stadt Pergamon auferstehen.
Architekt Yadegar Asisi hat eine mehr als 200 Jahre alte Tradition neu entdeckt, denn Rundumbilder waren die ersten visuellen Massenmedien in Europa. Präzise Darstellungen von Landschaften oder Städten ermöglichten es einem breiten Publikum, ferne Orte zu entdecken. Ähnlich sind auch die Asisi-Panoramen gestaltet, denn sie schaffen eine Erlebniswelt, die Geschichte vollkommen neu zugänglich und erfahrbar macht.
In „Carolas Garten" nutzte der Künstler für die vergrößerte Szenerie Aufnahmen von Elektronenmikroskopen und aus der Makrofotografie. Machte eindrucksvoll den Wandel der Jahreszeiten erlebbar, die Abfolge von Tag und Nacht, das Nebeneinander von Licht und Schatten.
„Carolas Garten hat mich sehr berührt, zeigen sich in ihm doch die Grundfragen des Lebens: Wer sind wir, woher kommen wir – und wohin gehen wir? Oft hängen wir an dem Gedanken, das Glück sei ewig", sagt Asisi. „Aber es ist ein Glück, dass wir jetzt da sind, wenn auch nur auf der Durchreise. Carolas Garten ist die tröstliche Allegorie für das natürliche Werden, Wachsen und Vergehen."