Wenn im Frühling die Lämmer zur Welt kommen, dann leben auf Texel mehr Schafe als Menschen. Hollands größte Watteninsel ist nicht nur wegen der kilometerlangen Strände beliebtes Ferienziel bei den Niederländern und ihren Nachbarn aus Deutschland.
"Auf geht’s zur Texel-Safari!" Arnold klettert breit grinsend auf den Beifahrersitz des Busses, dreht sich zu seinen fragend dreinschauenden Gästen und erklärt, was man auf Texel, Hollands größtem „Waddendiamanden" unter einer Safari zu verstehen hat. Zum einzigen Berg der 25 Kilometer langen Insel will er mit uns fahren, erklärt der Landwirt und Guide in Personalunion, und zum Leuchtturm. Aber auch zum Oude Land, zum Alten Land mit seinen Weiden und Hecken, den schmalen Pfaden dazwischen, und zum Landschaftsschutzgebiet De Slufter.
Und so geht es auch gleich kurz hinter dem Hauptort der Insel, Den Burg, mit seinen kleinen Geschäften, Restaurants und Hotels rund um die protestantische Kirche weg von der breiten Landstraße. Auf schmale Sträßchen, die sich zwischen sattgrünen Wiesen und kleinen Wäldchen entlangziehen. Nicht lange währt die Fahrt, dann heißt es aussteigen – wir sind am Fuße des Hoge Berg angelangt. Wobei Berg auf Texel mit einem Augenzwinkern zu verstehen ist, die höchste Erhebung der Insel misst nämlich gerade einmal 15 Meter. Dennoch, der Blick von hier reicht über die von sogenannten Tuinwallen – Zaunwällen – eingerahmten Felder über Weiden mit unzähligen Schafen und umhertollenden Lämmern. Über verstreut liegende Gehöfte und die in der Landschaft verteilten Schafscheunen mit ihren auf einer Seite abgeschrägten Dächern. Die sogenannten Schapenboeten dienten allerdings bis heute nicht als Schafställe, erklärt Arnold, sondern in erster Linie als Vorrats-und Lagerräume. Die Schafe selbst bräuchten eigentlich keine Unterstände, denn die auf Texel beheimatete Rasse sei wind- und wetterfest.
Höchste Erhebung misst 15 Meter
Und neugierig. Denn es dauert nicht allzu lange, bis eine Gruppe von Vierbeinern auf ihrer Weide den Zweibeinern auf ihrem kleinen Trampelpfad folgt. Während Arnold weiter von den Besonderheiten der Landschaft rund um den Hoge Berg erzählt, die in der letzten Eiszeit entstand – riesige Gletscher hatten hier gewaltige Mengen an Ton, Kies, Lehm aufeinandergeschoben und so für fruchtbaren Boden gesorgt. Felder und Wiesen wurden voneinander durch die charakteristischen Tuinwallen abgegrenzt, dazu Grassoden aufeinandergestapelt, die heute zu kleinen Biotopen für zig Pflanzen-, Insekten und Vogelarten geworden sind.
Nicht weit von hier liegt der Georgierfriedhof, erklärt Arnold seinen Zuhörern. Denn im Zweiten Weltkrieg waren auf der Insel mehrere Hundert georgische Soldaten als Hilfstruppen der deutschen Besatzungsmacht untergebracht. Sie hatten im April 1945 versucht, bei einem Aufstand die Kontrolle über die Insel zu erlangen. Fast 3.000 Menschen kamen dabei ums Leben. Zum Gedenken an die hier begrabenen Georgier wurden Rosensträuche gepflanzt.
Geschichte – so scheint es – begegnet man auf Texel fast auf Schritt und Tritt. Von den Gletschern der Eiszeit und ihren Hinterlassenschaften bis zum Jahr 1170, als Texel bei der Allerheiligenflut vom Festland abgetrennt und zur Insel wurde. Vom 15. und 16. Jahrhundert, als die sogenannte Reede von Texel ein wichtiger Ankerplatz für aus der Zuidersee kommende Schiffe war, die von hier aus bei günstigem Wind nicht nur Spanien und Frankreich, sondern auch Indonesien – das damalige Ostindien – ansteuerten. Klar, dass sich auch im Laufe der folgenden Jahrhunderte der Schiffsverkehr zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelte. Schiffe mussten be- und entladen werden, Texeler Lotsenboote sorgten dafür, dass die Handelsschiffe immer genügend Wasser unter dem Kiel hatten. Proviant musste mit an Bord genommen werden – und Wasser für die lange Reise.
Zu einem dieser alten Trinkwasserbrunnen, dem „Wezenputten" führt unser Weg vom Hoge Berg. Ein kleiner Kanal wird gekreuzt, der vermutlich im 17. Jahrhundert ausgehoben wurde, damit kleine Boote vom Deich bis in die Nähe der Trinkwasserquellen fahren konnten. Die Quellen waren im Besitz des Waisenhauses von Den Burg und die Einrichtung konnte sich größtenteils über den Verkauf des eisenhaltigen Wassers finanzieren, das in Fässern zum Kanal gerollt und dort auf die Boote geladen wurde. Gegenüber der Quelle: das Huize Brakenstein aus dem 18. Jahrhundert mit seinem Garten in französischem Stil. Ein verwunschen wirkender Ort, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint.
Geschichte auf Schritt und Tritt
Arnold schaut ein wenig besorgt zu den Wolken, die herangezogen sind. Bevor es noch anfange zu regnen, sollten wir doch schnell dem Leuchtturm der Insel einen kurzen Besuch abstatten, meint er. Also geht es in den Inselnorden, ins Dörfchen De Cocksdorp, dessen Bewohner früher in ärmlichen Verhältnissen lebten, oft nur durch Strandräuberei über die Runden kommen konnten. Starke Strömungen zwischen Texel und der Nachbarinsel Vlieland, aber auch die tückischen Sandbänke sorgten dafür, dass in dem Bereich immer wieder Schiffe untergingen – allein zwischen 1848 und 1860 waren es 72. Schließlich wurde der 35 Meter hohe Leuchtturm errichtet, um weitere Unglücke zu verhindern.
Heute ist der knallrote Turm eines der Wahrzeichen von Texel – 135 Stufen klettert man hinauf, um dann eine fantastische Sicht über die Insel zu genießen: hinüber zur Nachbarinsel Vlieland, hinunter auf die Dächer von De Cocksdorf, aber vor allem auf den Strand – über 30 Kilometer zieht sich dieser bis zu Texels Südspitze. Feinsandig, breit, mit einem Dünengürtel – auch in der Nebensaison Anziehungspunkt für alle, die sich hier den frischen Wind um die Nase wehen lassen wollen. Zur Mittagspause bleiben wir in Sichtweite der Nordsee, in einem der Gastropaviljoens, die sich von Nord nach Süd über den Strand verteilen. Das sind höher gelegte Holzhäuser mit großen Fenstern, die den Blick auf das Geschehen am Strand und das Meer freigeben, manche eher einfach, andere ziemlich stylish ausgestattet. Viel Licht, helles Holz, großblättrige Pflanzen, ein zur offenen Feuerstelle umfunktioniertes altes metallenes Seezeichen, Sitzmöbel im Retro-Design – der Gastropaviljoen XV kommt wie eine Mischung aus urgemütlichem Wohnzimmer und urbanem Restaurant daher. Auf der Karte viele regionale Produkte – vom Texel-Lamm über Krabben aus dem Wattenmeer bis hin zum geräucherten Aal – all das aber mit „Twist". Den Fisch gibt’s schon mal mit Lauch und Granatapfelkernen, das Wildschwein mit Quinoa und Sellerie. Dazu die Aussicht auf das heute zugegebenermaßen eher graue Meer und den endlos wirkenden Strand.
Anziehungspunkt ist der 30 Kilometer lange Strand
Zufrieden und satt geht es also zur weiteren Entdeckung der Insel – wie eng deren Geschichte mit der Seefahrt verknüpft ist, darum geht es im Schifffahrts- und Strandgutmuseum Kaap Skil. Hier nimmt uns Gilles van Mil in Empfang und lotst uns zunächst ins Untergeschoss. Im schummrigen Licht stehen wir vor einer bis ins Detail originalgetreuen Nachbildung der Reede von Texel im Jahr 1660 – im Maßstab 1:87. Und Gilles beginnt zu schwärmen, weist uns auf Einzelheiten hin. Auf verschiedene Schiffstypen, die an den Masten „wehenden" Flaggen, die Segel, die anzeigen, dass der Wind aus südwestlicher Richtung kommt. Verständlich, dass ein so ausgeklügeltes Modell viel Arbeit und Zeit gekostet hat – über eine Million Euro wurden investiert, fünf Personen haben, so erzählt Gilles, sieben Jahre lang an dem Modell gearbeitet. Eine Etage höher reihen sich Vitrinen voller unterschiedlichster Fundstücke dicht an dicht. Hier ist zu sehen, was Fischer und Taucher aus Schiffen geborgen haben, die vor Texel im Laufe der Jahrhunderte untergingen. Manches muss auch heute noch in Meerwasser aufbewahrt werden, wie beispielsweise Jahrhunderte alte Textilreste – an der Luft würden sie sich schnell zersetzen, so die Erklärung. Was könnten all diese Fundstücke, die kostbaren Porzellanscherben, die Tonkrüge und verzierten Gläser wohl für Geschichten erzählen? Gilles nickt. Leider wisse man bei vielen der Exponate nicht, woher sie stammten und wohin sie transportiert werden sollten. Ähnlich bei dem in einem Seitengebäude gelagerten Strandgut – einem ziemlich aberwitzigen Sammelsurium. Nichts, was es hier nicht gibt, was nicht bei irgendeinem Sturm an die Küsten der Insel gespült wurde – von Badeenten über Zahnspangen, Glühbirnen und einem Trinkgefäß aus Kuhhorn bis hin zum Verkehrsschild.