Die Orientierungslosigkeit der Volksparteien und der Hype um die Grünen
Wie viele innerparteilichen Attacken, wie viele Demütigungen, wie viel Häme muss ein Spitzenpolitiker ertragen, bevor er oder sie sagt: Es ist genug. Man kann nur erahnen, durch welche Hölle Andrea Nahles gegangenen ist, bevor sie den Bettel als Partei- und Fraktionschefin der SPD hingeworfen hat. Es ist das – sehr wahrscheinlich nur vorläufige – Ende eines Selbstzerfleischungsprozesses. Unmittelbarer Auslöser waren die desaströsen Ergebnisse bei der Europa- und der Bremenwahl, die Nahles maßgeblich angelastet wurden.
Doch die Ursachen für diese Erschütterungen reichen viel tiefer. Die SPD leidet seit Jahren unter einer schweren Identitätskrise. Die Fragen, an denen sich die Geister scheiden: für oder gegen eine Teilnahme an der Großen Koalition („Groko")? Regierungsfähige Partei oder Schutzmacht der kleinen Leute?
Einige glauben, dass beides auf einmal möglich ist. Andrea Nahles gehörte ebenso zu diesem Flügel wie Finanzminister Olaf Scholz. Immerhin habe die SPD Pflöcke wie den Mindestlohn, die abschlagsfreie Rente mit 63 für Langzeitbeschäftigte oder das Gute-Kita-Gesetz einschlagen können, betonten sie. Der Haken an der Sache: Dies wurde bei Wahlen vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel zugeschrieben, die die CDU immer weiter sozialdemokratisiert hatte.
Für die Verkünder der reinen Lehre sind Nahles und Scholz Verräter. So will Juso-Chef und „Groko"-Gegner Kevin Kühnert die SPD auf einen marxistischen Kurs zurückkatapultieren. Er plädiert für die Kollektivierung von Großkonzernen wie BMW oder die Enteignung von Wohnungsbaugesellschaften. Derlei Radikalforderungen sind nicht einmal in der Linkspartei salonfähig.
Diese Zerreißprobe ist für die Sozialdemokraten existenzgefährdend. Zwischen der Merkel-CDU und der Linkspartei bleibt kaum noch Platz. Der SPD droht nun ein ähnlicher Weg wie den französischen Sozialisten: Die bekamen bei den letzten Parlamentswahlen nur noch etwas mehr als sieben Prozent.
Für die Union ist dies kein Grund zur Freude. Denn sie hat selbst ein ungelöstes Führungsproblem. Merkel agiert als Überkanzlerin, die nur noch die internationale Bühne sucht, in der Innenpolitik jedoch weitgehend Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer das Feld überlässt. AKK hat jedoch durch gravierende Kommunikationspannen den Nimbus der frischen Kraft verloren. Vor allem die an Ratlosigkeit kaum zu überbietende Reaktion auf das plakativ-provokante Video des Youtubers Rezo hat sie beschädigt. Demaskierend dabei: Der Union fehlt die zündende Idee, der große Wurf für die Zukunftsfragen der Gesellschaft.
In die Orientierungslosigkeit der schrumpfenden Volksparteien Union und SPD stoßen die Grünen als die neuen Heilsbringer. „Klimaschutz" lautet der politische Fetisch, mit dem die Öko-Partei in bürgerliche Milieus eindringt und bei vielen Jugendlichen punktet. Die Kampagne bleibt aber einstweilen ein grünes Versprechen, das nicht eingelöst wird. Die Mischung aus Aktivismus, Hype und dem Rummel um den Grünen-Popstar Robert Habeck – ein Knuddel-Politiker neuen Typs – sorgt für eine bislang nicht gekannte Fankultur.
Doch das Weltklima lässt sich nicht durch noch so hohe CO2-Steuern in Deutschland retten. Ohne die Einbindung von China, den USA, Indien oder Brasilien läuft auf globaler Ebene nichts. Zweitens: Grüne Rhetorik klingt gut, löst aber noch keine Probleme. So wird im Zuge der Energiewende massenhaft Strom durch Windräder im Norden Deutschlands erzeugt. Dieser kann jedoch wegen der fehlenden Netze nicht in den Süden transportiert werden, wo die Unternehmen ihn dringend bräuchten.
Während die Grünen die Menschen im Westen mit dem Mono-Thema Klima elektrisieren, trommelt die AfD im Osten mit dem Mono-Thema Ausländer und Islam. Die Republik ist aus dem Lot, die Parteienlandschaft befindet sich im Umbruch.
Es wird Zeit, dass Politik und Öffentlichkeit zu neuer Sachlichkeit und Vernunft zurückkehren. Die Zukunft Deutschlands entscheidet sich an folgenden Kernpunkten: Wirtschaftswachstum, Arbeit, Bildung, Digitalisierung, Klimawandel, Gesundheit und Pflege. Hierüber lohnen sich Streit und Debatte. Der Youtuber Rezo oder die Klima-Aktivistin Greta Thunberg mögen mit ihren Vorstößen für eine neue politische Erregungskultur sorgen. Lösungen sind das aber nicht.