Eine Reise zur antiken Maya-Stadt Tikal und der Küche von La Señora Pu in Guatemala.
Von der Plattform des Tempels der zweiköpfigen Schlange aus erscheinen die Regenwälder des Petén schier endlos. Aus der grünen Ebene im Norden Guatemalas spitzen Tempelzinnen als Zeugen der Maya-Zeit heraus. Vom Hauptplatz Tikals dringt das Tschok, Tschok der Arbeiter herauf, die mit der Machete Gras schneiden. Nun geraten die Baumwipfel in Bewegung wie eine grüne Welle, ein Gewitter rollt heran. Doch die Besucher harren oben aus, die düsteren Wolken passen perfekt zur Maya-Mystik.
Vieles aus der unerforschten Geschichte der Urbewohner Zentralamerikas lädt ein zu wilden Theorien. Allen voran fabuliert seit Jahrzehnten EvD, wie sich Erich von Däniken nennen lässt, die Maya-Götter seien in Wahrheit Außerirdische; wie sonst hätte das Volk aus dem Regenwald so komplexe Bauten, astronomische Rechnungen und ihre Kalender ausführen können − was genau betrachtet dumpfer Eurozentrismus ist. Aber auch ich würde mich jetzt gern einfangen lassen von Nebulösem. Auf der Plattform der Pyramide käme mir eine ergriffene Stimmung recht, angekommen in Tikal, einer der bedeutendsten Stätten der klassischen Maya-Periode. Während diese Tempel entstanden, wohnte der Rest des amerikanischen Kontinents noch in Hütten, und Europa fiel ins Mittelalterloch, alle Hochkulturen, von den Ägyptern über die Griechen zu den Römern, waren verrauscht, eingegangen in Dekadenz, hatten sich überlebt. Doch eine Pyramide gehört dir nie allein, Besucher drängen herauf, die weihevolle Stimmung mag sich nicht einstellen. Ein letzter Blick auf die steinernen Zeugen: Allein in Tikal lebten 50.000 Menschen, in der gesamten Tikal-Agglomeration sollen es bis zu 200.000 gewesen sein. Die Suche nach esoterischer Stille ist also ohnehin nicht angebracht; es dürfte hier immer ziemlich lebhaft zugegangen sein.
„Meister der Steinmetzkunst"
Tikal will seine Geheimnisse nicht so leicht offenbaren. Unten, zwischen den Stufentempeln und Mauerresten, wuchert das tropische Grün. All die Bäume, die schon die Mayas kannten, drängen ans Licht: der Brotnussbaum, dessen Samen das Mehl für Tortillas lieferte, der Pimentbaum versorgte sie mit einem scharfen Gewürz und Kautschukbäume mit zähem Harz. Daraus wurde der Vollgummi-Ball für das rituelle Spiel geformt. Und über allen ragt der Ceiba, der Kapokbaum, der heilige Baum, der die Aufteilung der Welt symbolisierte, mit den Wurzeln in der Unterwelt und der Krone als Göttersitz. Lianen schlingen sich um Steine und Bäume, als greife die Natur beharrlich wieder nach den Ruinen, die so viel länger überwachsen als ausgegraben waren. Luis Ramirez, seit vielen Jahren Reiseführer in Petén, zeigt auf Hügel und sagt, „lauter Tempel". Doch im Nationalpark „streiten sich Archäologen und Biologen", sagt Ramirez. „Die einen wollen ausgraben, die anderen die Natur schützen." Tikal war um 900 verlasen worden, der Grund dafür war wenig mythisch eine zu lange Dürreperiode. Erste umfassende Ausgrabungen gab es Ende des 19. Jahrhunderts. Alles, was zum Vorschein kommt, belegt, was Ramirez sagt: „Die spanischen Konquistadoren fanden für ihren Kirchenbau bereits qualifizierte Arbeitskräfte vor, die Mayas waren Meister in der Steinmetzkunst." Seit 1979 erforschen guatemaltekische Institutionen Tikal, in der Tiefebene werden weitere Maya-Stätten vermutet.
Ausgangspunkt für den Besuch von Tikal ist Flores, ein Dorf am Lago Petén Itzá. Auf den Veranden hängen Traveller in Hängematten ab, Happy-Hour-Schilder bewerben Cocktails, am Ufer verkaufen Frauen Accras, frittierte Bällchen aus Kabeljau, und Pepián, den guatemaltekischen Eintopf. Eine kleine Fähre legt an, von der eine junge Frau ein Geländemotorrad runterbugsiert, ein Einbaum paddelt just in den Sonnenuntergang.
Eine ziemlich ruhige Gegend – außer im Jahr 2012. Da musste mal wieder die Innenwelt der Maya für die Außenwelt und ihre Spezialinterpretationen herhalten. Esoteriker aus der ganzen Welt rückten in weißen Wallegewändern an und glaubten laut einer Maya-Prophezeiung sei das Ende nah. „Hier setzte der reinste Weltuntergangstourismus ein", erinnert sich Ramirez, „und die Leute wollten umsonst rein in den Nationalpark, Weltkultur- und Weltnaturerbe zugleich, ganze Busse voll. Sie seien schließlich Pilger", hätten sie gesagt. Seine größte Sorge sei gewesen, „dass die hier kollektiv Selbstmord begehen wollen". Das habe sich zum Glück nicht bewahrheitet. Und alles nur wegen einer Fehlinterpretation des Maya-Kalenders.
Frauen tragen bunte Trachten
Man hätte auch einfach die Einheimischen fragen können. Anders als in den Nachbarländern sind in Guatemala rund die Hälfte der Einwohner Maya, 22 Maya-Sprachen werden hier gesprochen, auch die Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú ist eine Maya. Sie leben vor allem im Hochland, überall präsent ist dort die bunte Tracht der Frauen. Der Markt in Chichicastenango zeigt sich als Wimmelbild mit der dominierenden Farbe Rot. Kistenweise Tomaten, Stapel von Paprika, Frauen in roten, pinkfarbenen und orangenen Blusen, in den Gassen der Stadt warten unzählige Stände mit Souvenirs, viel Gewebtes und Gestricktes, aber kaum Kunden sind zu sehen. Die hohe Gewaltbereitschaft krimineller Banden schreckt vor Reisen nach Guatemala ab, nicht einmal auf die Vulkane soll man wandern, weil auch dort Räuber lauern.
An den auf 1.600 Metern gelegenen Atitlán-See kommen alle, die durch Guatemala reisen. Traumschön liegt er umgeben von Vulkanen. Zwischen Maya-Frauen mit ihren bunten Gewändern spazieren späte Hippies, Studienreisende, Traveller; eine junge Italienerin schlurft mit langen Dreadlocks barfuß über die vermüllte Straße. Am See, in Panajachel, lebt seit 30 Jahren das Ehepaar Katt. Die Berliner wanderten 1986 aus. „Tschernobyl!", sagt Jürgen Katt, „Unsere Kinder haben im Tiergarten gespielt! Wochen später kam alles raus." Als wegen des Bürgerkrieges niemand mehr ins Land kam, „konnte man billig kaufen". 1989 eröffneten sie ein Restaurant. Und wie haben sie den Bürgerkrieg erlebt? „Wir haben nur durch die Zeitungen was mitbekommen." Auch von den Vorfällen in einem Nachbarort. „Da haben sich die Leute versammelt, dann kam die Polizei, nur zum Nachsehen, und dann sind die gleich mit Macheten auf die Polizei los, da haben die natürlich geschossen."
Worauf Katt anspielt, ist das Massaker am Atitlán-See: Im Nachbarort Santiago Atitlán versammelten sich am 2. Dezember 1990 unbewaffnete Einheimische, das Militär eröffnete das Feuer, elf Tote waren zu beklagen. Der internationale Druck war daraufhin so groß, dass die Regierung das Gebiet zur militärfreien Zone erklären musste. Nach Ende des Bürgerkriegs stellte die Uno fest, dass über 80 Prozent der Opfer Indigene und von ihnen die allermeisten Maya waren. Mit unvorstellbarer Grausamkeit wurden die Einheimischen niedergemetzelt, Frauen vergewaltigt, Schwangere und ihre Föten massakriert. Wer heute durch das Land fährt und sich an der farbenprächtigen Kleidung der einheimischen Frauen erfreut, kann all das nicht mehr mitdenken. Katt sagt, die Kultur gehe jetzt verloren, „die Maya kaufen sich billige Jeans und T-Shirts." Man möchte ihn darauf hinweisen, dass auch er kein härenes Wams aus dem Mittelalter mehr trägt, lässt es dann aber bleiben. Und dann merkt er noch an: „Mit den Militärs von damals treffen wir uns noch. Dann reden wir über alte Zeiten, das sind ja verständige Menschen."
Was würde Señora Pu dazu sagen? Ich habe es nicht gewagt, sie darauf anzusprechen. Ich hätte mich geschämt. Señora Pu ist eine kluge Frau, sie hätte die entsprechende Antwort geben können. Man sollte Señora Pu nicht unterschätzen, wenn sie in ihrer Restaurantküche herumfuhrwerkt. Die 48-Jährige ist klein, winzig fast, wie die meisten Maya-Frauen, sie betreibt in Ciudad de Guatemala ihr Lokal „La cocina de la Señora Pu". Ihre gutturale Mayasprache heiße Killim, und ihr Name habe zu tun mit der Legende kriegerischer Zwillingsbrüder; ein Nachbar am Tresen fängt an, das „Popol Vuh" nachzuerzählen, das heilige Buch der Mayas. Aber zwischen den Protagonisten Hunahpú und Ixbalanqué verliere ich den Faden. Währenddessen faltet Señora Pu grüne Blätter zu Tellern, schöpft schokoladig-scharfe Soßen auf Fleischteile und erzählt. Jesuiten ihres Heimatdorfes förderten sie, sie lernte lesen und schreiben, studierte Anthropologie, „denn es ist wichtig zu wissen, woher man kommt". Ihre Abschlussarbeit hatte das Thema „Mayas und die Feminismus-Theorien". Ihre These: Man kann in der Küche stehen und kochen und trotzdem Feministin sein. Das setzt sie mit ihrem Lokal in der Hauptstadt um. Die Küche sei in der Maya-Kultur ein sozialer Ort, also wollte sie, dass ihre Gäste in der Küche sitzen. Und so sehen ihr vom langen Tresen aus alle beim Kochen zu. Zum Abschluss des Essens und für uns zum Ende der Reise, serviert sie Mais-Schnaps in Mini-Kalebassen. Seit fünf Jahren kocht sie ihre traditionellen Gerichte. Señora Pu sagt, „ich fand, das ist ein guter Weg, die Kultur zu vermitteln." So kann auch Kochen ein Weg sein, die Deutungshoheit für die eigene Geschichte zu erlangen.