Zehn Jahre lebte der Nürnberger Toni Riethmaier in Saudi-Arabien, einem der verschlossensten Länder der Welt. Im Interview spricht er über sein Leben dort und verrät, was für ihn die größten Umstellungen waren, welche Verhaltensweisen ihn am meisten überrascht haben – und ob die Vorurteile begründet sind.
Herr Riethmaier, wie kamen Sie auf die Idee, für zehn Jahre nach Saudi-Arabien auszuwandern?
Ich war die Jahre zuvor bereits im asiatischen und arabischen Raum beruflich in der Hotellerie und Gastronomie tätig und konnte entsprechende Arbeitserfahrung sammeln. Ein Headhunter bot mir eine Führungsposition für ein neues Restaurant-Projekt im arabischen Raum an. Zuerst war ich eher skeptisch. Während meiner Zeit in Dubai (2003 bis 2004) habe ich nicht gerade die besten Erfahrungen gemacht und wollte den arabischen Raum in Zukunft eigentlich meiden. Als ich jedoch erfuhr, dass die zu besetzende Stelle in Saudi-Arabien war, änderte ich meine Meinung. Die Möglichkeit, in Saudi-Arabien zu arbeiten und zu leben, gab es nicht alle Tage und dann auch noch eine Neueröffnung – das sah ich als Herausforderung und guten Schritt in meiner Karriere an und willigte einem überaus guten Angebot ein. Der erste Vertrag belief sich auf zwei Jahre, somit eine absehbare Zeit.
Dass ich gleich zehn Jahre bleiben sollte, stand zu diesem Zeitpunkt noch in den Sternen.
Sie arbeiteten in Saudi-Arabien als Leiter eines italienischen Restaurants. Welche Unterschiede gab es im Vergleich zu Ihrer Arbeit in Deutschland?
Die Leitung und Organisation eines Restaurants ist im Wesentlichen immer sehr ähnlich. Eine Herausforderung war die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, welche unseren hohen Qualitätsansprüchen gerecht werden konnten. Es dauerte einige Monate, bis wir die richtigen Lieferanten ausfindig machen konnten. Einige Dinge, wie etwa das richtige Mehl für den Pizza-Teig oder den original Parmesan-Käse aus der Region um Modena, ließen wir selbst einfliegen.
Noch ein großer Unterschied war aber, dass alle Mitarbeiter männlich waren, wir fast keine saudischen Angestellten hatten und keine einzige weibliche Angestellte. Das Service-, Küchen-, Reinigungs- und Büropersonal kam überwiegend aus Indien, den Philippinen, Bangladesch oder Indonesien. Die Leitung der Küchen unterlag einem italienischen Chefkoch, und mein Vorgesetzter war aus der Schweiz. Lediglich der Personalleiter war ein Saudi wie auch das Wachpersonal, welches für die Sicherheit des Restaurants zuständig war.
Der Verdienst war höher als in Deutschland. Wobei ich eine Sechs-Tage-Woche hatte und insgesamt nur einmal pro Jahr einen kompletten Monat Urlaub nehmen konnte. Dafür wurden Wohnung und Auto gestellt. Der Hin- und Rückflug nach Deutschland, auch Krankenversicherung und Vollverpflegung im Restaurant war Teil des Pakets. Das Mehrverdienen ersetzt aber nicht die wenige Freizeit, die zur Verfügung steht. Verdienst ist für mich zweitrangig, wichtig sind die Arbeit an sich und die Herausforderung.
Wie sah Ihre Wohnung aus?
Mir wurde eine vollmöblierte Fünf-Zimmer-Wohnung mit zwei Bädern, Küche und Balkon im firmeneigenen Wohngebäude gestellt. Die Einrichtung war funktional und westlich, mit Fernseher, zentraler Klimaanlage und schöner Aussicht auf den Hafen von Jeddah.
Wurden Sie von Einheimischen akzeptiert, und haben Sie Freundschaften geschlossen?
Nachdem ich nicht in einem Compound – eine von der Außenwelt abgeschottete Wohnenklave für Ausländer – wohnte, sondern in einem regulären Wohngebäude, waren meine Nachbarn Einheimische oder andere Mitarbeiter der Firma aus asiatischen oder arabischen Ländern. Durch meinen regelmäßigen Kontakt mit arabischen Gästen im Restaurant bekam ich ein sehr gutes Gespür für Verhalten und Lebensweise der Saudis. Es fiel mir leicht, mich mit Gästen über alle möglichen Themen zu unterhalten, ihnen auch hier und da Einblicke und Informationen über Europa zu geben und dadurch auch Einblicke in das Leben der Saudis zu bekommen. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg bildeten sich auch Freundschaften zu Saudis in meinem Alter mit ähnlichen Interessen und Hobbys. Mit den meisten bin ich bis heute noch in regem Kontakt, und wir treffen uns auch ab und zu, wenn es möglich ist.
Ich habe es aber auch erlebt, dass Europäer sich die meiste Zeit in den Compounds aufhielten und unter sich blieben.
Welche Umstellungen sind Ihnen am schwersten gefallen?
In fremden Ländern muss man sich immer auf neue Dinge einstellen, so auch in Saudi-Arabien. Hier sogar viel mehr als in anderen Ländern. Sind es in westlichen, christlichen und demokratisch regierten Ländern nur Kleinigkeiten, in denen sich die Länder unterscheiden, so ist Saudi-Arabien als streng konservatives, vollständig muslimisch geprägtes und von einem König regiertes Land ein exotisches Extrem. Verhaltensregeln musste ich komplett neu lernen, Arbeitspraktiken in der Geschäftswelt verstehen lernen und einige meiner Gepflogenheiten ablegen. Hier wäre etwa die Geschlechtertrennung in den Restaurants. Es gibt immer zwei voneinander abgetrennte Bereiche. Ein Teil, meist der größere, ist ausschließlich für Familien zugänglich. Hier speisen Eltern als Mann und Frau mit ihren Kindern, Ehepaare oder Frauen mit anderen Frauen. Männer, die nur unter sich sind, müssen sich in einem anderen Teil des Restaurants aufhalten. Das sind dann die Family und Single Sections in den Restaurants. Am Anfang sehr gewöhnungsbedürftig, mit der Zeit fiel es mir nicht mehr auf, da wir meist als gemischte Gruppe essen gingen. Die wohl größte Einschränkung waren für mich aber am Anfang die Öffnungs- und Arbeitszeiten. Im streng muslimischen Saudi-Arabien schließen nämlich alle Geschäfte, Supermärkte, Tankstellen, Friseure, Behörden oder Banken immer während der Gebetszeit – bis zu fünfmal am Tag und immer mindestens 20 Minuten. Es kann einem also passieren, dass der Bäcker genau dann seine Türen schließt, wenn man das Auto geparkt hat und die Gebetszeit vergessen hatte.
Welche Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Bräuche oder Traditionen haben Sie in Saudi-Arabien am meisten überrascht?
Die allzeit gegenwärtige und sehr hohe Polizei- und Militärpräsenz bereitete mir am Anfang oft Kopfzerbrechen. Gab es eine überaus hohe Kriminalität oder Verkehrsunfälle? Besteht doch Gefahr durch Terroristen oder müssen all die Mitglieder der Königsfamilie ständig bewacht werden? Mit der Zeit wurde eigentlich klar, dass die meisten Polizisten und Soldaten nur als Dekoration abgestellt wurden. Berufe im Staatsapparat waren den Saudis vorbehalten, ein überdurchschnittlicher Lohn und bessere Sozialleistungen haben wohl dazu geführt, dass es einen Überschuss an Beamten gab und entsprechend gar nicht wirklich viel zu tun war. Jeder Polizist hatte auf Streife einen eigenen Streifenwagen oder ein Motorrad.
Straßenarbeiter, die für das Säubern der Gehwege und Straßen zuständig waren, gab es fast an jeder Ecke. Es wurde immer gekehrt und sauber gemacht. Das musste auch so sein, denn alles, was man nicht mehr braucht, flog galant aus dem Auto auf den Boden. Selbst, wenn es Mülleimer gab und Recycling-Stationen, landete der Müll doch meist daneben oder wurde in den falschen Behälter geworfen. Das Gefühl für Sauberkeit und Ordnung herrscht in der Öffentlichkeit fast nicht. Daher überrascht es einen kaum, dass am Wochenende die Parks mit Müll übersät sind. Man bringt alles zum Picknick mit, lässt dann aber den Müll liegen und ihn vom Straßenkehrer wegräumen.
Gibt es irgendwo private oder gar öffentliche Partys, zu denen man gehen kann?
Als Expat hat man die Möglichkeit, an kulturellen Angeboten der ausländischen Vertretungen teilzunehmen. Man muss sich hierzu aber immer bei seinem Konsulat registrieren, um eingeladen zu werden. Solche Veranstaltungen werden gern und gut besucht. Die Ausführung ist meist sehr professionell, mit Büfett oder Snacks vom Cateringservice, Bier und anderen alkoholischen Getränken. Viele nehmen auch nur wegen der alkoholischen Getränke an den Events teil. In dem sonst trockenen Land ist das Trinken auf Konsulats- beziehungsweise Botschaftsboden durchaus erlaubt. Man kann hier in guter Gesellschaft ein paar schöne Stunden verbringen, in absolut sicherer Umgebung und ohne Angst haben zu müssen, dass man etwas Unrechtes tut. Manchmal versorgt auch ein DJ zu späterer Stunde die Gäste mit etwas flotterer Musik.
Mit den richtigen Kontakten kann man aber auch zu illegalen Partys in geheimen Clubs gehen und dort die ganze Nacht feiern.
Gab es Situationen, in denen Sie Angst hatten?
Nein.
Haben Sie jemals eine öffentliche Hinrichtung mitbekommen?
Nein.
Sind die Vorurteile, dass Frauen keine Rechte haben, immer verschleiert sind und nur shoppen gehen, begründet?
Solche Vorurteile haben schon ihre Begründung. Frauen müssen aus religiösen Gründen verschleiert sein und benötigen auch immer noch einen Vormund, welcher alle rechtlichen Dinge entscheiden darf und auch muss. Dass sie aber nur Kinder bekommen und shoppen gehen, ist nicht richtig. Viele Frauen sind berufstätig und sehr engagiert, auch wenn es um Schulbildung oder Studium geht. Ich konnte beobachten, dass immer mehr Frauen zum Beispiel Sprachkurse besuchten, oder an speziellen Frauen-Universitäten studierten. Es gibt im privaten Sektor etliche Frauen, welche entweder Eigentümerin einer Firma sind oder in hohen Führungspositionen arbeiten. Auch finden sich immer wieder Frauen in Regierung und Stadtverwaltung. Sie sind meistens in Gremien und Ausschüssen vertreten, wie zum Beispiel der Industrie- und Handelskammer in Jeddah. Durch die aktuelle geplante und angestrebte Wandlung von Saudi-Arabien wird es in Zukunft vermehrt Frauen in der Regierung oder in Firmen geben.
Warum dürfen keine Touristen einreisen und wieso dringt so wenig über Saudi-Arabien nach außen vor?
Es gibt einen sehr starken Tourismus in Saudi-Arabien, nur ist dieser nicht einer, wie wir ihn kennen. Der Tourismus beschränkt sich auf die Pilger, welche jedes Jahr in Millionen in das Land strömen, um die Haddsch (Pilgerfahrt der Muslime; Anm. der Red.) durchzuführen. Hier werden aber nur die religiösen Stätten besucht. Der Einzelne hat nur wenige Möglichkeiten, sich mehr vom Land anzuschauen. Die Regierung ist sehr vorsichtig, wenn es darum geht, Einreiseerlaubnis an Ausländer zu vergeben. In der Vergangenheit gab es wiederholt Zwischenfälle mit ausländischen Reisegruppen, wie zum Beispiel Entführungen oder Attentate auf solche Reise-Gruppen. Die Informationen, die im Ausland über Saudi-Arabien zu erfahren sind, werden gern durch den saudischen Staat und seine Presse und Medien kontrolliert. Ausländischen Journalisten wird die Einreise oft verwehrt oder derartig erschwert, dass eine Berichterstattung dann auch nur kontrolliert stattfinden kann. Vereinzelt gelingt es Reportern, welche in das Land reisen durften, gute Reportagen zu erstellen. Diese weichen aber immer von der Realität ab, da solche nie spontan stattfinden und immer angemeldet sein müssen.
Gibt es Unterschiede zu anderen arabischen Ländern?
Saudi-Arabien ist bestimmt das konservativste und strengste Land von allen Ländern der arabischen Halbinsel. Im Vergleich sind die Vereinigten Arabischen Emirate wesentlich weltoffener und moderner eingestellt. Ähnliches gilt für Katar, auch ein sehr modernes und fortschrittliches Land, welches sich auch nach der Blockade durch die Nachbarstaaten stetig und rasch entwickelt. Auch ist Saudi-Arabien das größte und mächtigste Land der Region, daher sind die Unterschiede schon größer, da es für Entwicklung und Veränderung wesentlich mehr Zeit als in anderen Ländern benötigt.
Was denken Sie über die Zukunft Saudi-Arabiens?
Die Zukunft Saudi-Arabiens ist für mich sehr ungewiss. Der amtierende König und dessen Sohn, welcher auch Kronprinz und der eigentliche Herrscher von Saudi-Arabien ist, treffen Entscheidungen, die in meinen Augen sehr gewagt sind. So wurden vor Kurzem die ersten Kinos eröffnet, öffentliche Konzerte veranstaltet und einige Lockerungen vollzogen. Die wohl bekannteste Lockerung war die Erlaubnis zum Autofahren für Frauen. Leider sind solche Entscheidungen in meinen Augen eher ein Marketing-Stunt, um von anderen politischen und sozialen Problemen abzulenken und die Bevölkerung bei Laune zu halten. Definitiv wird die junge Generation einiges an Veränderungen bringen. Frauen werden sich weiterhin in der Geschäftswelt etablieren und sich somit mehr emanzipieren. Dies wird aber nur langsam vorangehen.
Warum sind Sie nach zehn Jahren doch wieder nach Deutschland zurückgekehrt?
Nach acht sehr erfolgreichen Jahren mit dem Restaurant gab es firmenintern eine Umstrukturierung. Hier wurden dann einige Fehlentscheidungen getroffen, welche starken Einfluss auf das tägliche Restaurantgeschäft hatten. Dadurch wurde weniger Profit erwirtschaftet, und es kam schon mal zu Engpässen, wenn es um die Lohnzahlung ging. Darüber hinaus wurde sehr kurzfristig vom Stadtrat entschieden, dass die Hauptverkehrsstraße mitsamt der Zufahrtsstraße zu unserem Restaurant für mindestens zwei Jahre aufgrund von Erweiterungsarbeiten gesperrt wird. Dies hatte zur Folge, dass binnen Tagen das Restaurant schließen musste. Ich entschied daher, meine Tätigkeit als Geschäftsführer zu beenden und Saudi-Arabien zu verlassen. Dies war ein relativ guter Zeitpunkt, denn nach zehn Jahren arbeiten und leben in Saudi-Arabien hatte ich für mich ausreichend Erfahrung und Wissen gesammelt.
Würden Sie wieder auswandern – wenn ja, wohin?
Zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Ich bin sehr froh, in Nürnberg zu leben und auch wieder regen Kontakt mit Familie, Verwandtschaft, Bekanntschaften und vor allem meinen Freunden zu haben. Natürlich kann es sein, dass ich in der Zukunft beruflich wieder im Ausland tätig sein werde. Ein wirkliches Auswandern wird es aber nicht werden.