Von Aladin und Aschenputtel – eine Ausstellung im Berliner Neuen Museum wirft Schlaglichter auf Ursprünge und Wechselwirkungen arabischer und deutscher Erzähltraditionen.
„Als der Morgen kam, sprach Scheherazade: ‚Sollte der König mich bis zur nächsten Nacht am Leben lassen, werde ich ihm die noch merkwürdigere und interessantere Geschichte erzählen, nämlich die Geschichte von Hasan al Gauhari und was ihm mit dem Sultan Harun ar-Raschid passierte.‘ Der König sagte zu ihr: ‚Ich werde dich so lange leben lassen, bis ich die Geschichte gehört habe.‘" Scheherazade, die Geschichtenerzählerin der weltberühmten Märchensammlung „Tausendundeine Nacht" Nacht, beherrscht die Kunst des Erzählens meisterhaft und man könnte meinen, heutige Drehbuchautoren von TV-Soaps seien bei ihr in die Lehre gegangen. Eine Geschichte an der spannendsten Stelle zu unterbrechen und die Auflösung auf das nächste Mal zu verschieben – das ist der Cliffhanger, der das Publikum bei der Stange hält. Heute eingesetzt, um Quote zu machen – damals lebenswichtig: Scheherazade rettete der Trick das Leben und bescherte ihr die Liebe des Sultans.
Geschichten zu erzählen, das scheint ein Grundzug der menschlichen Natur zu sein. Märchen – also Geschichten ohne Anspruch auf Wahrheitsgehalt – sind zentrale Bestandteile der Kulturgeschichte, sie werden von Generation zu Generation weitergegeben, sie vermitteln Werte, stärken Identität und Zusammenhalt. Dass sich arabische und deutsche Erzähltraditionen im Laufe der Jahrhunderte beeinflusst, durchdrungen und bereichert haben, zeigt die Ausstellung „Cinderella, Sindbad & Sinuhe", die das Neue Museum in Berlin noch bis Mitte August präsentiert.
Zu den ältesten Dokumenten, die Kuratorin Verena Lepper und ihre Kollegen für die Schau vor allem aus den Sammlungen der Staatlichen Museen Berlins zusammengetragen haben, gehört eine Kalksteinscherbe aus dem alten Ägypten. Mit roter und schwarzer Tinte wurde sie etwa 1.200 Jahre vor unserer Zeitrechnung in hieratischer Schrift beschrieben. Der Text erzählt die Geschichte des Sinuhe. Der Forschung nach gilt sie als eines der frühesten erhaltenen Meisterwerke der Weltliteratur aus dem Jahr 1900 v. Chr. Ein unbekannter Autor schildert darin als Ich-Erzählung die Lebensgeschichte eines hochrangigen Beamten am Hof des Pharaos Amenemhet I. Als der Pharao stirbt, gerät dieser Beamte namens Sinuhe in Panik, fürchtet, man könne ihn für den plötzlichen Tod des Herrschers verantwortlich machen. Sinuhe flieht, lässt sich in der Region Palästina nieder. Jahre später aber packt ihn das Heimweh. Da trifft es sich gut, dass der Sohn des verstorbenen Pharaos, inzwischen von der Unschuld des Sinuhe überzeugt, den mittlerweile alten Beamten zur Rückkehr auffordert. Zurück in Ägypten empfängt man ihn mit allen Ehren.
Ein Text auf einer ägyptischen Scherbe
Ungefähr genauso alt wie die altägyptische Kalksteinscherbe ist die mesopotamische Keilschrifttafel in einem benachbarten Schaukasten – gebrannter Ton mit akkadischer Keilschrift. Herkunftsort ist Bogazköy, auf dem Gebiet der heutigen Türkei, rund 150 Kilometer östlich von Ankara gelegen. Die Tontafel stammt aus dem Königspalast der Hethiter-Hauptstadt Hattuscha. Das gebrannte Material überliefert das Epos von Gilgamesch, das von Heldentaten und Abenteuern, von der Suche nach Unsterblichkeit und der Einsicht, dass diese den Göttern vorbehalten ist, berichtet. Damit ähneln sich die beiden uralten Erzählungen. Beide kreisen um die zentralen Themen Tod, Loyalität und soziale Zugehörigkeit. Erstaunlich ist es trotzdem, dass die alte Ägypter-Erzählung auch für das Publikum des 20. Jahrhunderts aufbereitet wurde. Mika Waltari, einer der erfolgreichsten Schriftsteller Finnlands, machte aus dem Stoff 1945 einen Roman und nach Waltaris Romanvorlage brachte 20th Century Fox Sinuhe in den 50er-Jahren sogar als Kinohelden groß raus. Ein Filmplakat zum Streifen „Sinuhe der Ägypter" aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek ist ebenfalls in der Ausstellung zu sehen.
Längst nicht so alt wie die Story aus dem alten Ägypten sind die Märchen aus „Tausendundeine Nacht". Aber auch dieser Erzählstoff hat schon über 1.000 Jahre überlebt. Das älteste Fragment der „Arabischen Nächte", wie die Sammlung ursprünglich hieß, stammt aus dem frühen 9. Jahrhundert. Aufgeschrieben in Bagdad, gelangte es ins alte Ägypten, wo es Archäologen 1947 wiederentdeckten. Die „Arabischen Nächte" wurden in allen Epochen neu übersetzt, neu interpretiert und auch immer wieder an die aktuellen kulturellen und politischen Gegebenheiten angepasst, so Verena Lepper, Kuratorin der Ausstellung. Nachdem der französische Orientalist Antoine Galland (1646 – 1715) die Märchensammlung ins Französische übertragen und in Frankreich veröffentlicht hatte, machte „Tausendundeine Nacht" in Europa eine fulminante Karriere, wurde in viele andere Sprachen übersetzt. Exotisch anmutende Figuren wie Sindbad und Aladin begeisterten die Leserschaft im Okzident ebenso wie die Scheherazade, die Heldin der Rahmenhandlung, die das Geschichten-Potpourri zusammenhält. „Tausendundeine Nacht" hatte großen Einfluss auf die deutsche Literatur. Inspiriert von den orientalischen Erzählungen verfasste Wilhelm Hauff im 19. Jahrhundert Kunstmärchen wie „Kalif Storch" und „Die Karawane", die im Orient spielen, so wie ihn sich Hauff, der deutsche Romantiker, vorstellte.
Auch Johann Wolfgang von Goethe beschäftigte sich intensiv mit arabischer Literatur. Der „Faust II" und sein „West-östlicher Divan" sind von Goethes Lektüre inspiriert. Dass in umgekehrter Richtung Märchenstoffe der Brüder Grimm im 20. Jahrhundert in die arabische Literatur einzogen, zeigt die Berliner Ausstellung auch. So lesen auch arabische Eltern ihren Kindern „Dornröschen", „Rotkäppchen" oder den „Froschkönig" in adaptierten Versionen vor.
Auch wenn Aschenputtel/Cinderella, Aladin und Sindbad dem Publikum von heute multimedial entgegenspringen – als Disney-Leinwandhelden und Comicgestalten, in Hörbüchern und Videospielen, so erfreut sich die ursprünglichste Form der Geschichtenüberlieferung immer noch großer Beliebtheit – das freie Erzählen vor großem Publikum. Ein Ort, der wie kein anderer für diese Tradition steht, ist der Djemaa el Fna, Marrakeschs zentraler Markplatz, den die Unesco auch wegen seiner Geschichtenerzähler als Welterbe anerkannt hat. Über 50 Jahre lang erzählte dort El Haj Ahmed Ezzarghani seine Geschichten. „Inzwischen ist es mir dort zu laut und wegen der vielen Touristen zu voll", so der 80-jährige Marokkaner bei der Berliner Ausstellungseröffnung, wo er eine Kostprobe seiner Kunst gab. Im Zelt, das im Griechischen Hof des Neuen Museums steht, finden in den kommenden Monaten einige Erzählnachmittage für Familien mit deutschen Geschichtenerzählern statt. Dabei wird der Beweis angetreten, dass die Magie des freien Erzählens, auch in Zeiten multimedialer Dauerpräsenz ungebrochen ist.
Die Ausstellung „Cinderella, Sindbad & Sinuhe. Arabisch-deutsche Erzähltraditionen" ist noch bis zum 18. August im Neuen Museum Berlin zu sehen.
www.smb.museum