Tief gespalten blickt Bulgarien, Europas statistisch ärmstes Land, auf die Europäische Union: Während in den frisch renovierten Zentren der beiden größten Städte Sofia und Plowdiw junge, gut ausgebildete Menschen vor allem Zukunftschancen sehen, fühlt sich eine ganze Generation von Älteren und Geringqualifizierten abgehängt.
Streunende Hunde und Katzen suchen im Müll auf den Brachflächen zwischen den verfallenden Wohnblocks nach Fressbarem. Dazwischen spielen Kinder. An der löchrigen Durchgangsstraße der Roma-Siedlung Stolipinowo am Stadtrand von Plowdiw stehen Männer hinter Bergen von Hausrat, den sie hier verkaufen wollen, um sich ein paar Lewa zu verdienen. Die Geschäfte laufen schlecht. Das Angebot an billigen Klamotten, alten Waschmaschinen, Putz- und Waschmitteln ist größer als die Nachfrage. Nein, zur Europawahl möchten sie lieber nichts sagen.
Doch dann löst sich ein stämmiger Mann Mitte 40 aus der Gruppe. „Deutschland?", fragt er, „komm, komm, gucken." Er führt mich hinter einen der verfallenden Wohnblocks aus den frühen 70er-Jahren. Die Eingangstür ist herausgebrochen. In einigen Wohnungen fehlen die Fenster. Aus einem Abflussrohr läuft das Abwasser in den Keller, wo es sich stinkend staut. „Kaputt, alles kaputt" schimpft der kleine Mann im dunkelblauen Billig-Trainingsanzug. Niemand kümmere sich um die Häuser, obwohl sie doch der Stadt gehörten.
Auch die Müllabfuhr komme nicht mehr. Die Stadt habe die Müllcontainer, die einst zwischen den Hochhäusern standen, wieder abgeholt. Die Wege seien für die Müllwagen zu eng und die Leute werfen ihren Abfall ohnehin nur aus dem Fenster. Wo sollen wir denn hin damit, halten die Anwohner dagegen.
Am Rand der Siedlung trotzen Hütten aus rohen Ziegeln, Holz, Plastikresten und Wellblech der eisigen Winterkälte und der Hitze des Sommers: Illegale Bauten, die die Stadt immer wieder abreißen lässt. Die Bewohner bauen sie dann schnellstmöglich wieder auf. Viele sehen nicht ein, dass sie eine Baugenehmigung benötigen oder es fehlt ihnen dafür das Geld. Wasser holen sie aus dem nahen Fluss oder von einem der wenigen Hydranten im Viertel. Strom zapfen sie von einem der umstehenden Hochhäuser.
In der mit etwa 50.000 Einwohnern größten Romasiedlung Südosteuropas glaubt kaum noch jemand, dass Wahlen etwas ändern können. Versprochen haben Politiker schon viel. Passiert ist eher nichts. Die Straßen versinken nach Regengüssen im Schlamm. Überall liegt Müll herum, den niemand abholt. Die alten Leute können von ihren Renten nicht leben. Die Jungen finden keine Jobs und die Kinder drängen sich in überfüllte Schulen, an denen sie kaum etwas lernen. In Tests schneiden viele Siebtklässler in Stolipinowo schlechter ab als Viertklässler in anderen Plowdiwer Stadtteilen.
Die meisten Männer schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die Frauen bleiben zu Hause. Schätzungen zufolge können bis zu 80 Prozent der Roma in Stolipinowo weder lesen noch schreiben. Neun von zehn finden keine regelmäßige bezahlte Arbeit. Fast die Hälfte von ihnen hat keine Krankenversicherung. Die Lebenserwartung liegt um zehn Jahre unter dem Landesdurchschnitt.
„Zehn Jahre ich gearbeitet in Deutschland", erzählt einer, der die Szene bisher still beobachtet hat. „Bulgarien nix korrekte Leute." Sein Chef in Deutschland sei ein Türke gewesen. „Ich immer Arbeit, aber nix Geld."
Horrende Mieten, Hungerlohn in Deutschland
Wahrscheinlich ist er an einen der Schlepper geraten, die den jungen Männern gut bezahlte Jobs vor allem im Ruhrgebiet versprechen. Dort stecken sie sie oft in heruntergekommene Schrottimmobilien. Für einen Schlafplatz kassieren die Vermittler horrende Mieten. In Duisburg fanden städtische Mitarbeiter eine siebenköpfige Familie in einer 30-Quadratmeter-Wohnung für 850 Euro im Monat. „Diese Kriminellen nutzen die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Behörden aus", bestätigt der Sprecher der Landesarbeitsagentur Nordrhein-Westfalen Christoph Löhr.
„Valide Daten" haben weder die Arbeitsverwaltungen, noch die Städte oder die Polizei. Auch die Bundesregierung bestätigt auf eine Anfrage der FDP im Bundestag, dass sie keinen Überblick hat. Auf die Frage, wie die Jobcenter verfahren, wenn „eine Meldeadresse von überdurchschnittlich vielen Personen angegeben wird", heißt es in der Bundestags-Drucksache 19/5424: „Im Regelfall haben die Jobcenter über diesen Sachverhalt keine Erkenntnisse." So können Kriminelle Dutzende ihrer Schein-Angestellten in einer Wohnung anmelden und für jeden von ihnen beim Jobcenter Mietzuschuss und Hartz-IV-Aufstockerleistungen kassieren. Die Betroffenen sehen meist nichts von dem Geld.
Von der Politik ist wenig zu erwarten. Der Parlamentsabgeordnete der „Patriotischen Front" Valeri Simeonow nennt die Roma „Parasiten" und „menschenähnliche Bestien", ohne dass ihn dafür jemand belangt. Seine Partei stellt zusammen mit der konservativen GERB („Partei für eine europäische Entwicklung Bulgariens") und zwei weiteren rechten Kleinparteien die Regierung.
Mit der Toleranz gegenüber Minderheiten, der Pressefreiheit und auch dem Lebensbedingungen der Roma ging es in Bulgarien seit dem EU-Beitritt 2007 bergab. Letzteres bestätigt zum Beispiel Christo Nikolov. Er hat sich als einer von wenigen Roma aus dem Teufelskreis aus schlechter Bildung und Armut befreit. Nach dem Tod seiner Eltern 1997 beschloss er „etwas aus sich zu machen". Er schaffte das Abitur, studierte und gründete eine Stiftung, um das Leben der Roma in seinem Heimatort zu verbessern. Er organisierte Nachhilfestunden und Computerkurse in der Siedlung. Damals, sagt Nikolov, hatte die Regierung ein Interesse an der Integration der Roma und der Korruptionsbekämpfung. Schließlich wollte sie die Kriterien für den geplanten EU-Beitritt erfüllen. Die EU überwies Geld für Integrationsprogramme direkt an Organisationen, die die Roma selbst gegründet hatten. Heute dagegen verteilen die Regierung und staatliche Behörden das Geld aus den europäischen Fonds.
Nikolov, ein schmaler, nachdenklicher Typ, der seine langen schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden hat, arbeitet inzwischen fürs bulgarische Gesundheitsministerium als Mediator. Dort vermittelt er Gesundheitsprogramme vor allem gegen die in den Roma-Siedlungen verbreitete Tuberkulose. Die bulgarische Politik sieht er trotzdem kritisch. Ob Geld für Infrastruktur oder für die bessere Ausbildung der Roma: Bei den Betroffenen kommt kaum etwas vom Geld der europäischen Steuerzahler an.
Projekte verschwinden, wenn die europäische Förderung ausläuft. So gab es in Plowdiw ein paar Jahre lang Geld für einen Bus, der 200 Roma-Kinder aus Stolipinowo in andere Stadtteile zur Schule brachte. Dort lernten die Kinder deutlich besser, als in den schlecht ausgestatteten Schulen ihres Viertels. Als die Förderung auslief, fuhr der Bus nicht mehr. Weder die Stadt Plowdiw noch der Staat waren bereit, das Angebot weiter zu bezahlen. Die meisten Eltern können sich kein Fahrgeld leisten. Zusätzliche Sozialhilfe von etwa 35 Euro pro Person und Monat erhält, wer monatlich mindestens 14 Tage für die Stadt arbeitet. Vermutlich deshalb sind neun von zehn Müllmännern und die meisten Straßenkehrer in Plowdiw Roma.
Fragt man die Menschen, was ihnen fehlt, kommt neben dem Wunsch nach besseren Schulen, Häusern und Straßen meist die eine Antwort: Geld und Arbeit. Vor allem Frauen haben kaum die Chance, aus Stolipinowo herauszukommen und eigenes Geld zu verdienen.
Deshalb bildet ein Verein mit Spendengeldern aus Deutschland seit 2015 Roma-Frauen zu Industrie-Näherinnen aus. In einem großen Saal sitzen drei Frauen zwischen Ende 20 und Mitte 30 an gespendeten Industrie-Nähmaschinen. Die Frauen antworten erst leise und zögernd auf Fragen. Doch wenn sie sich in Fahrt geredet haben, schimpfen sie über die Zustände in Stolipinowo: Manchmal habe sie am Monatsende kein Geld mehr, um für ihre Familie etwas zu Essen zu kaufen, erzählt eine. Die anderen nicken. Die Schule hat nur eine von ihnen abgeschlossen. „Ich bin nach einem Streit mit dem Lehrer nicht mehr hingegangen", erzählt die Dritte, nachdem sie lange geschwiegen hat. „Das war in der vierten Klasse." Eine andere wurde mit 14 von ihren Eltern verheiratet. Damit war ihre Schulkarriere zu Ende. „Das war damals ganz normal." Heute wünschen sich die drei vor allem eine gute Bildung für ihre Kinder. Nur dann hätten sie eine Chance, dem Elend in Stolipinowo zu entkommen.
Alle sind sie sich darin einig, dass die Politiker vor Wahlen viel versprechen, aber dann alles wieder vergessen. Einmal habe die Stadt während des Wahlkampfs angefangen, eine Straße zu reparieren. Gleich nach dem Wahltag zogen die Bauarbeiter wieder ab. Geld sei ihnen auch schon für ihre Stimmen geboten worden, berichten die Frauen: 20 Lewa, gut zehn Euro, für eine Stimme.
Fast alle Beobachter bestätigen, dass Parteien die Clanchefs der Roma für jede Wählerstimme bezahlen. Das gehe sogar so weit, dass viele Roma gegen Bezahlung auch die Parteien wählen, deren Kandidaten gegen die Zigeuner hetzen.
Als Europäerinnen fühlen sich die Frauen in der Zukunftsnäherei wie viele hier in Stolipinowo nicht. „In diesem Dreck hier, dem Lärm, der Armut? Wie denn?", fragt eine von ihnen. „Wenn wir leben könnten wie im Westen, dann wären auch wir Europa", ergänzt sie.
Keinen interessiert der „EU-Hinterhof"
Die Leiterin der Zukunftsnäherei, Maria Schischkowa, hat, wie sie versichert „keine Mühe, Jobs für die Absolventinnen zu finden". Im Gegenteil: Die Textilunternehmen rund um Plowdiw suchten dringend Facharbeiterinnen. Jahrelang musste sie vielen Bewerberinnen absagen, weil sie das Geld für die Werkstatt und die Löhne nicht zusammenbekam. Nun fördert der Europäische Sozialfonds die Zukunftsnäherei mit 100.000 Euro. Das Geld muss die Werkstatt allerdings bis Jahresende ausgegeben haben. So entsteht neuer Stress. So schnell lassen sich so viele Kurse gar nicht organisieren und zu Ende bringen. Und 2020 steht die Zukunftsnäherei wieder mit leeren Händen da. Schischkowa sieht sich, wie die meisten gut Qualifizierten in Bulgarien, als überzeugte Europäerin. Die Unterstützung der EU erlebt die Betriebswirtin als Fundament ihrer Arbeit.
Europa bewegt viel – aber oft an der Lebenswirklichkeit derjenigen vorbei, die die Hilfe benötigen. Nicht nur die überzeugte Europäerin Schischkowa kritisiert, dass die Förderprogramme der EU zu kurzfristig laufen. Kleine Organisationen könnten den Aufwand für die Anträge kaum bewältigen. „Bis dann entschieden ist, sind viele kleine Projekte wie wir längst pleite."
Während kleine Antragsteller oft nur für ein paar Tausend in der EU-Bürokratie hängen bleiben, greifen andere Millionen ab. Im Herbst 2018 deckte das investigativ recherchierende Online-Magazin „Bivol" wieder einen Korruptionsskandal auf. Der größte Baukonzern des Landes, eng verflochten mit der Politik, hat Millionen an europäischen Fördergeldern abgezweigt. Dimitar Stoyanov, Reporter des Magazins, schätzt den Schaden auf eine halbe Milliarde Euro. Die Journalisten brachten das Material im Herbst nach Brüssel zur europäischen Anti-Korruptionsbehörde OLAF. „Von dort haben wir nur eine Eingangsbestätigung bekommen", erzählen Stoyanov und „Bivol"-Herausgeber Assen Yordanov. Beide haben wegen ihrer investigativen Recherchen schon mehrere Mordanschläge überlebt. Die Täter wurden angeblich „nie gefunden".
Doch da ist auch ein anderes Bulgarien. Im frisch renovierten Plowdiwer Hipster-Viertel Kapana mit seinen vielen Cafés, Restaurants und liebevoll gestalteten kleinen Läden gedeiht das neue, junge Bulgarien der Chancen und Hoffnungen. Vera Markowa zum Beispiel hat in England PR und Marketing studiert. Letztes Jahr hat sie sich mit einem Onlinehandel selbstständig gemacht. Die 28-Jährige verkauft unter ihrem Label Green Revolucia, Grüne Revolution, unverpackte Seife, Zahnbürsten aus Bambusholz und andere Ökoprodukte. Europa ist für sie vor allem ein Kontinent der Möglichkeiten. Sie ist froh, Teil der Europäischen Union zu sein. „Handel und Versand sind so viel einfacher", freut sich die Unternehmensgründerin. „In der EU arbeiten wir zusammen, helfen einander und inspirieren uns gegenseitig."
Auch der Plowdiwer Verleger Manol Peykov sieht in der EU hauptsächlich Vorteile. Für die Probleme in der Union macht er auch die „herrschenden Eliten im Westen" verantwortlich. Dort interessiere sich kaum jemand dafür, was hier im Hinterhof Europas vor sich geht. Bulgarien sei eines der am schnellsten schrumpfenden Länder weltweit. Wer kann, sucht sich eine Arbeit im Westen. Fachkräfte fehlten, vor allem Ingenieure, Ärzte, Krankenpfleger und -schwestern. Drei Millionen Bulgarinnen und Bulgaren sind ausgewandert. Das kümmere in Westeuropa ebenso wenig, wie die verbreitete Korruption in Wirtschaft, Politik und Justiz.
Peykov versteht nicht, warum die in Bulgarien regierende GERB-Partei angesichts dieser Zustände nicht aus dem Verbund der Europäischen Volksparteien ausgeschlossen wird. Bulgarien nennt der Verleger „eines der unglücklichsten Länder der Welt. Unglücklicher als Haiti mit seinen Erdbeben und unglücklicher, als die meisten in Afrika". Der Grund: „Hier vergleichen sich alle nur mit dem Westen. Kaum jemand blicke nach Asien oder Afrika. Dann nämlich würde man sehen, dass die meisten Bulgaren besser leben, als 98 Prozent der restlichen Menschheit."