Der Hamburger SV spielt ein weiteres Jahr zweitklassig. Dieter Hecking und Jonas Boldt sind die neuen starken Männer beim Nordclub – der Stadionuhr und einem Vereinslied geht es derweil an den Kragen.
„Wollen wir mal ehrlich sein", schrieb der Chef der Hamburger Fanvereinigung Supporters Club (SC) in seinem offenen Brief, „hanseatisches Understatement sieht anders aus." Bezug nimmt der Chef des SC dabei auf das Vereinslied „Hamburg, meine Perle" von Lotto King Karl. In diesem heißt es unter anderem: „Wenn du aus Bremen kommst, gibt’s für dich hier nichts zu holen" oder „den Bayern ziehen wir die Lederhosen aus". Zudem wird an vergangene Tage im Europapokal gedacht: „Wenn ich weit, weit weg bin, in Juve oder Rom." Dazu schreibt der SC-Chef: „Bremen hat uns über Jahre abgehängt, hat uns am Ende immer geschlagen, wenn es darauf ankommt." Er würde sich nur zu gerne verabschieden von einer „Stadionhymne, in der es in keiner Textstelle um den HSV geht, in der wir immer noch von Juve oder Rom träumen", obwohl der HSV seit der Spielzeit 2009/2010 nicht mehr international unterwegs war.
Reisen nach Juve oder Rom mussten die HSV-Fans eher privat antreten, die Wahrheit lautet Regensburg und Heidenheim. Der ehemalige Bundesliga-Dino ist nämlich ein weiteres Jahr zweitklassig – weit entfernt davon, den Bayern die Lederhosen auszuziehen oder sich mit Werder Bremen zu vergleichen.
Realität ist nämlich mittlerweile die Angst, in der Zweiten Liga irgendwann vor dem finanziellen Kollaps zu stehen. Viele machten den Aufstieg nicht nur deshalb zur Pflicht. Dieser ging bekanntlich gehörig daneben. Ursprung dieser Angst ist der Umgang der Vereinsführung mit einem Riesenhaufen Geld – zu Zeiten, als noch in der 1. Bundesliga geträumt wurde. Verschiedene Sportdirektoren verprassten mehr als 100 Millionen Euro für neue Spieler – das Geld stammte aus der Tasche von Investor Klaus-Michael Kühne. Geplant war, damit in der 1. Bundesliga einen Platz in der vorderen Tabellenregion zu erzielen und dadurch mehr Geld aus der TV-Vermarktung zu generieren. Aufgegangen ist dieser Plan bekanntermaßen nicht. Am Ende stand der Abstieg, der in die Bilanz des HSV ein riesiges Loch riss. Wegen der geringeren Einnahmen brach der Umsatz um 40 Millionen Euro ein, das Geschäftsjahr wurde mit einem Rekordverlust von 20 Millionen Euro beendet.
„Die finanziellen Probleme werden so nur in die Zukunft verlagert"
Obwohl der direkte Wiederaufstieg verspielt wurde, droht dem Club keine Insolvenz. Im vorigen Geschäftsjahr, dem aktuellsten, für das der Verein Zahlen veröffentlicht hat, schaffte es der HSV, seine Verbindlichkeiten von 105,5 Millionen Euro auf 85,5 Millionen Euro zu senken. 18 Millionen davon fielen weg, weil Kühne auf die vollständige Rückzahlung seiner Darlehen verzichtet hatte. Den verbleibenden Schulden stehen der Wert des Stadions und anderer Immobilien (laut Bilanz 62,4 Millionen Euro) gegenüber und das Eigenkapital, das in erster Linie durch den Verkauf von Vereinsanteilen, natürlich an Kühne, gesteigert wurde. Er hält inzwischen gut 20 Prozent der Anteile. Der HSV war aber in der vergangenen Saison und wird auch in der kommenden wirtschaftlich handlungsfähig sein. Das liegt aber vor allem an zwei neuen Geldquellen des Vereins. Zum einen an der neuen Fan-Anleihe, die dem Verein satte 17,5 Millionen Euro einbrachte. Mehr Geld kann der HSV dadurch zwar nicht ausgeben, er kann aber zumindest die noch bis September laufende „alte" Anleihe ablösen und erhielt eine neue Lizenz für beide Ligen von der DFL. Solche Fan-Anleihen sind oftmals das letzte Mittel, um einen klammen Verein umzuschulden.
„Die finanziellen Probleme werden aber so nur in die Zukunft verlagert", sagt Bilanz- und Steuerexperte Hans-Jürgen Beil, der seit Jahren die finanzielle Lage des Vereins analysiert. Ein echter finanzieller Befreiungsschlag war zum anderen eine weitere Einigung mit Kühne. Der HSV kaufte dem Mäzen für rund fünf Millionen Euro Risiko-Klauseln aus den Kreditverträgen der Beiersdorfer-Ära ab. Der ehemalige Sportchef hatte dem Investor Erfolgsbeteiligungen in Höhe von maximal 50 Millionen Euro zugesichert. Der HSV hätte etwa in diesem Jahr bei einem Gewinn des DFB-Pokals 12,8 Millionen Euro an den Investor zahlen müssen. In der Bundesliga wären bis 2022 Rückzahlungen ab Tabellen-Platz zehn fällig gewesen. Dazu wären Beteiligungen an möglichen Transfer-Überschüssen angefallen. Nun verzichtet der Investor auf diese Forderungen, der HSV kann dadurch Spieler wie Filip Kostic und Douglas Santos verkaufen, ohne dass Geld an Kühne fließt. Darauf ist der Verein angewiesen, er muss in diesem Sommer unbedingt einen Transferüberschuss erzielen. Auch die Fans entscheiden über die wirtschaftliche Zukunft ihres Clubs. Für den Finanzexperten Beil stellt ein mögliches Ausbleiben der Fans das größte finanzielle Risiko für den HSV dar: „Wenn sich die Anzahl der Stadionbesucher halbieren würde, würde dem HSV sofort die Liquidität fehlen, um seine Rechnungen zu bezahlen", sagt er. Momentan macht der Spielbetrieb rund 30 Prozent der Umsätze des HSV aus. „Es hilft sehr, dass die Zuschauer und Partner dem HSV nach dem Abstieg die Treue gehalten haben", sagte Finanzvorstand Frank Wettstein, als er im November die Bilanz des HSV präsentierte.
Sparen muss der HSV so oder so. Der Spieleretat, der die größte Ausgabe darstellt, soll von 30 Millionen Euro auf 20 Millionen reduziert werden. Das wird die Aufgabe des neuen Sportdirektors Jonas Boldt sein. Zum Vergleich: Paderborn schaffte den direkten Aufstieg mit einem Etat von zehn Millionen. Zwar sollen Spieler verkauft werden, das Problem ist nur: Der genesene Kyriakos Papadopoulos und Rückkehrer Bobby Wood belasten den Geldbeutel immens. Beide verdienen auch in der Zweiten Liga über zwei Millionen Euro und sind dadurch kaum an andere Vereine zu verkaufen. Die Folge: Zusammen verschlingen sie bereits gut 25 Prozent des Etats. Besonders viel Spielraum hat der Verein bei der Kaderzusammenstellung also nicht. Aber Clubboss Bernd Hoffmann sagt: „Wir werden auch nächste Saison in der Lage sein, einen der Top-2- oder Top-3-Kader zu stellen." Tatsächlich läge der Etat immer noch deutlich über dem Durchschnitt der 2. Bundesliga. Trotz des verpassten Aufstiegs verfügt der HSV wohl noch immer über genügend finanzielle Mittel, um eine konkurrenzfähige Mannschaft aufzustellen. Aus dem Umfeld des Vereins heißt es, man könne auch problemlos mehrere Jahre in der 2. Bundesliga spielen, ohne vor dem wirtschaftlichen Aus zu stehen.
Hecking soll für „Ruhe, Stabilität und Kontinuität" sorgen
Ein weiteres Jahr in der Zweiten Liga sollen der neue Trainer Dieter Hecking und Jonas Boldt als neuer Sportdirektor dennoch verhindern. Einige Spieler hat Boldts Vorgänger Ralf Becker bereits verpflichtet. Lukas Hinterseer (VfL Bochum), David Kinsombi (Holstein Kiel), Jan Gyamerah (VfL Bochum) und Jeremy Dudziak (FC St. Pauli) stehen fest. Ebenfalls beschäftigen muss sich Boldt mit den Rückkehrern. Bobby Wood (Hannover 96), Christoph Moritz (Darmstadt 98) und Matti Steinmann (Vendsyssel FF) kehren zurück, Julian Pollersbeck soll nach dem Kauf von Daniel Heuer Fernandes (Darmstadt 98) scheinbar versilbert werden. Auch Douglas Santos soll abgegeben werden. Die Aufgabe für Dieter Hecking ist derweil auch klar: die Rückkehr in die Bundesliga. Die erste Aufgabe des neuen Trainers soll laut Boldt lauten: „Zurück zu den Basics." Keine Experimente mehr! Als alter Hase im Trainergeschäft soll der neue Coach für „Ruhe, Stabilität und Kontinuität" sorgen. Drei Worte, deren Inhalte in den vorigen Jahren eher weniger beim Hamburger SV zu sehen waren.
Der HSV ist und bleibt eine Wundertüte. Klar ist, dass mit Hecking und Boldt zwei ausgewiesene Fachmänner die Positionen des Trainers und des Sportdirektors besetzen. Einige Experten ließen schon verlauten, dass wenn diese Kombination den HSV nicht in die Erfolgsspur führen kann, es wohl keiner könne. Doch nur darauf sollte der sportliche Erfolg nicht reduziert werden. Meist ist dieser angestrebte Erfolg oder Misserfolg zum Teil ein Abbild des Innenlebens eines Vereins. Und dort rumorte es seit Jahren gewaltig. Bernd Hoffmann kündigte Konstanz auf den wichtigen Positionen an – nur um in einem Jahr zwei Trainer und den neu installierten Sportdirektor zu entlassen. Der HSV muss endlich seine internen Querelen in den Griff bekommen. Vielleicht enthält „Hamburg, meine Perle" dann wieder realitätsnahe Aussagen. Wollen wir mal ehrlich sein: Davon ist der HSV meilenweit entfernt.