Dr. Jan Reisdorf hat am Knappschaftsklinikum Saar in Püttlingen die Abteilung für Geriatrie aufgebaut. Die Altersheilkunde ist vielen noch unbekannt. Im Interview erklärt der Arzt, was es damit auf sich hat.
Herr Reisdorf, was genau kann man sich unter Geriatrie vorstellen?
Kurz gesagt ist Geriatrie die Altersmedizin. Sie beschäftigt sich mit den Gesundheitsproblemen von älteren und hochbetagten Menschen.
Weshalb brauchen wir im Alter eine spezielle Medizin?
Es ist so, dass sich bei Senioren und hochbetagten Patienten die Zusammensetzung des Körpers und der Körperflüssigkeit verändert. Es kommt häufig zu Einschränkungen der Sinneswahrnehmung, der Gedächtnis- und Konzentrationsleistungen bis hin zur Demenz. Auf all diese Veränderungen müssen wir bei der Behandlung besonders eingehen. Im Mittelpunkt aber steht immer die Förderung der Lebensqualität der Patienten.
Geht es um spezielle Krankheiten, die Sie in der Geriatrie behandeln?
Bei unseren Patienten ab einem Alter von 60 oder 70 Jahren aufwärts liegt fast immer eine ausgeprägte Multimorbidität vor.
Was versteht man unter einer Multimorbidität?
Patienten mit einer ausgeprägten Multimorbidität haben häufig fünf oder noch mehr Krankheiten gleichzeitig. Ein Teil besteht vielleicht schon lange, andere sind gerade erst aufgetreten.
Wie geht man damit um?
Wir sind patientenzentriert. Das bedeutet, wir nehmen das auf, was für den Patienten wichtig ist. Auch wenn wir vielleicht am Ende nicht alles komplett heilen können, so streben wir immer eine optimale Therapie an mit der Steigerung der Lebensqualität. Wir möchten, dass es dem Patienten nach seinem Klinikaufenthalt deutlich besser geht und dass er wieder so selbstständig und selbstbestimmt wie möglich leben kann.
Oft verfolgt die Geriatrie dann einen ganzheitlichen Ansatz. Weshalb ist das wichtig?
Nicht selten bestehen neben körperlich-organischen Erkrankungen auch psychische Probleme, die sich gegenseitig beeinflussen. Auf diese Wechselwirkungen achten wir. Gleichzeitig ermitteln wir die Ressourcen des Patienten, die es ihm ermöglichen, rascher gesund zu werden. Ich selbst bin Internist, wir haben aber auch Krankheiten aus dem neurologischen oder orthopädischen Bereich. Vor allem letzterer macht einen großen Anteil bei unseren Patienten aus. Wenn sich jemand den Oberschenkelhals gebrochen hat, dann stellen wir ihn im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine.
Ein Oberschenkelhalsbruch passiert oft bei einem Sturz. Die Gefahr bei alten Menschen ist dafür besonders groß. Kann man sagen, wie groß genau?
Das ist ganz unterschiedlich. Grundsätzlich steigt die Sturzgefahr mit der Anzahl unterschiedlicher Erkrankungen sogar noch an. Das ist eine Abwärtsspirale, aus der der Patient von alleine nicht mehr herauskommt. Und dieser Spirale begegnen wir dann mit einem multiprofessionellen Team. Es besteht aus Physiotherapeuten, Logopäden, Medizinern, Pflegern, Psychologen. Jeder im Team hilft den Patienten auf seine Art.
Oft nehmen Senioren viele Medikamente auf einmal. Ist das ein weiterer Punkt, mit dem sie häufig als Herausforderung zu tun haben?
Sogar ein ganz wichtiger! Die sogenannte Polypharmazie ist ein Schwerpunkt meiner Tätigkeit als Geriater. Vier oder fünf Medikamente gleichzeitig sind bei älteren Patienten keine Seltenheit. Diese Polymedikation versuchen wir einzugrenzen. Wir überlegen uns sehr genau, was für den Patienten noch gut ist und passen die bestehenden Medikamente auf eine eingeschränkte Nierenfunktion oder Leberfunktion an. Wir schauen: Welche Medikamente kann der Mensch überhaupt noch einnehmen? Ist er in der Lage, Tabletten zu teilen, Asthmasprays zu bedienen? Dann stellen wir sicher, dass es möglichst wenige Nebenwirkungen gibt.
Das stelle ich mir schwierig vor.
Das ist auch nicht ohne. Wir versuchen zuerst, beim Patienten Nebenwirkungen zu erkennen. Oft werden diese nämlich als Symptome einer neuen Krankheit fehlgedeutet. Und dann nimmt der Patient womöglich noch ein weiteres Medikament gegen die vermeintliche Krankheit. Doch die ist ja in Wirklichkeit die Nebenwirkung einer Medikation. Das Phänomen nennt sich Medikationskaskade. Deshalb überlegen wir, wo wir Medikamente wegnehmen können, damit wir so etwas ausschließen.
Woher kommen Ihre Patienten? Schickt sie der Hausarzt?
Häufig ist es eine Einweisung durch den Hausarzt, wenn die Patienten älter sind als 70 Jahre und mehrere verschiedene Erkrankungen haben oder zunehmend immobil werden, also nicht mehr gut gehen können. Es gibt oft mehrere Ursachen. Die Immobilität spielt eine große Rolle. Oft kommen Patienten auch, wenn sie gestürzt sind. In so einem Fall wäre das Besondere an unserer ganzheitlichen Herangehensweise, dass wir nicht nur die Folgen des Sturzes behandeln. Vielmehr ermitteln wir auch: Warum sind die Patienten gestürzt? Gibt es medizinische Gründe? Und was können wir tun, damit es nach der Genesung nicht wieder passiert?
Was können Sie tun? Erklären Sie doch mal, was die Geriater, wie die Spezialisten für Geriatrie heißen, genau machen.
Wir sind, wie eben bereits angedeutet, ein Team verschiedener Spezialisten. In einer geriatrischen Abteilung arbeitet immer ein multiprofessionelles Team aus Physio- und Ergotherapeuten, Pflegefachkräften, Psychologen, Medizinern und Sozialarbeitern. Die Leitung hat in der Regel ein Facharzt, der zusätzlich eine dreijährige Ausbildung in Altersmedizin absolviert hat. So wie in meinem Fall: Ich bin Internist mit Zusatzausbildung in Geriatrie. Und dieses multiprofessionelle Team arbeitet gemeinsam mit dem Patienten.
Die Behandlung ist also stationär?
Richtig. Wir haben hier mittlerweile eine Abteilung mit 25 Betten. Die Geriatrie ist eine neue Fachabteilung am Knappschaftsklinikum Saar, die es erst seit gut einem Jahr gibt. Wir sind formal der Klinik für Neurologie zugeordnet als eigene Sektion. Die Neurologie behandelt zum Beispiel Schlaganfallpatienten. Daneben arbeiten wir auch mit anderen Abteilungen, zum Beispiel ganz eng mit den Orthopäden zusammen. Wir hatten ja eben das Beispiel mit dem Oberschenkelhalsbruch. So ein Patient würde bei uns eine weitere intensive Physiotherapie erhalten. Es bestehen intensive Verbindungen zu den unterschiedlichsten Fachbereichen, etwa zur Neurologie und zu den Internisten, damit wir alle Patienten bestmöglich betreuen können.
Weshalb brauchen Senioren eine ganzheitliche Medizin?
Es ist eine menschenwürdige Medizin. In der modernen westlichen Medizin liegt der Schwerpunkt auf gerätetechnischen Untersuchungen. Die Menschen wollen aber mit ihren tatsächlichen Problemen gesehen werden. Oft sind es auch psychosomatische Probleme wie Altersdepressionen. Da hilft es, wenn wir erst einmal zuhören, wir Ärzte ebenso wie unsere Pflegefachkräfte. Das ist doch, was sich jeder Patient heutzutage wünscht. Man wünscht sich, mit seinen Problemen ganzheitlich gesehen zu werden. Und nicht nur ein, zwei Untersuchungen zu bekommen und dann entlassen zu werden. Dem versuche ich mit der Ausrichtung der Abteilung entgegenzuwirken. Umgekehrt haben wir durch die enge Zusammenarbeit mit den anderen Abteilungen auch jederzeit die Möglichkeit, wenn es nötig ist, schnell eine bestimmte Untersuchung zu bekommen, zum Beispiel eine Computertomografie. Das verstehe ich unter ganzheitlich: Wir betrachten den Menschen mit all seinen Problemen, Ängsten und Ressourcen, kombiniert mit den Möglichkeiten der modernen Medizin.
Als ausgebildeter Geriater haben Sie die Federführung über ein Team. Was können Sie besser, als der Hausarzt, der zu Ihnen überweist?
(lacht) Die Frage hat man mir so noch nie gestellt. Wir kennen uns gut mit der Multimorbidität bei hochbetagten Patienten aus. Das ist einfach unser täglich Brot. Und der hochbetagte Patient hat nun mal eigene Besonderheiten, auf die wir uns spezialisiert haben. Das sind eingeschränkte Organfunktionen, Sinneswahrnehmungen, erhöhte Sturzgefahr, kognitive Einschränkungen, Gedächtnisstörung bis hin zur Demenz. Das unterscheidet uns vom klassischen Hausarzt, der auch deutlich jüngere Patienten behandelt.
Die Überweisung zum Geriater hat etwas Endgültiges – nun ist man alt. Haben die Patienten ein Problem damit?
Nein. Sie begreifen unsere Spezialisierung eher als Chance, noch mal auf die Füße gestellt und fitter für den Alltag zu werden. Die meisten wollen noch mal so fit werden wie möglich, um nach Hause entlassen und wieder selbstständig leben zu können. Es ist einfach Fakt: Wenn sich jemand mit 70 den Oberschenkelhals gebrochen hat oder eine neue Hüftprothese bekommt, liegt er erst mal völlig flach im Bett. Wir haben zwar eine hervorragende Orthopädie mit besonders schonenden Behandlungsmethoden auf dem neuesten Stand der Medizin, aber ein 70-Jähriger regeneriert sich eben nicht mehr so schnell wie ein 30-Jähriger. Dieser Mensch muss langsam aufgebaut werden über Wochen. Und darauf sind wir in der Geriatrie spezialisiert.
Gibt es eine Altersgrenze nach oben?
Nein. Unten liegt die Grenze bei mindestens 60 Jahren, aber nach oben gibt es keine. Erst neulich haben wir hier eine Hundertjährige stationär behandelt. Sie ist jetzt wieder wohlbehalten zu Hause.