Erstmals haben Wissenschaftler einen Überblick über den Zustand des weltweiten Flussnetz-Systems erarbeitet. Demnach ist von den größten Strömen der Erde nur noch gut ein Drittel halbwegs frei fließend, der Rest ist reguliert – mit schwerwiegenden Folgen für die Umwelt.
Dass der Mensch gravierend in eines der wichtigsten Lebenselixiere unseres Planeten eingegriffen hat, ist keineswegs ein Phänomen der Moderne. Denn schon seit dem Mittelalter wurde durch die Anlage Tausender Wassermühlen sowie durch Mühlenteiche, die das Wasser aufstauen die Flusslandschaft auf dem europäischen Kontinent ganz entscheidend verändert. Das natürlich verästelte Netzwerk von Wasseradern verschwand nach und nach durch die frühen Stauanlagen, die ein Anschwellen der Flüsse und die Ausbildung von mäandernden Wasserwegen zur Folge hatten. Das viel geliebte romantische Idealbild einer vermeintlich ursprünglichen, von weiten Wasserschleifen durchzogenen Naturlandschaft war also nichts anderes als von Menschenhand gemacht. Das konnten die beiden US-Wissenschaftler Robert Walter und Dorothy Merritts vom Franklin and Marshall College im Bundesstaat Pennsylvania in einem 2008 im Magazin „Science" publizierten Studienbeitrag nachweisen. Damit dürften sie vielen Ökologen den Wind aus den Segeln genommen haben, die sich die Renaturierung der begradigten Wasserläufe im Sinne des Natur- und Hochwasserschutzes auf die Fahne geschrieben hatten. Im Vergleich zu den durch die Mühlenanlagen verursachten Folgen für die fließenden Gewässer sind die in den letzten Jahrzehnten erfolgten Eingriffe in den globalen Wasserkreislauf natürlich ungemein schwerwiegender. Was durch eine neue, von WWF, der Montrealer McGill University und dem Natural Sciences and Engineering Research Council of Canada mitfinanzierten Studie eindrücklich aufgezeigt werden konnte, die von 34 internationalen Forschern erarbeitet und im Mai 2019 im Fachjournal „Nature" veröffentlicht wurde. Das Ergebnis: Frei fließende Flüsse gibt es in den dicht besiedelten Regionen der Welt kaum mehr. „Heute sind sie weitgehend auf abgelegene Regionen wie die Arktis, das Amazonasbecken und das Kongobecken beschränkt", so die an der Studie mitbeteiligte Prof. Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen.
Dramatischer Verlust von Lebewesen
Statt wilder Flussläufe oder reißender Ströme sind die meisten Wasseradern dieser Erde inzwischen durch 2,8 Millionen Dämme oder Talsperren gezähmt, wie die Forscher in einem umfassenden Kartenwerk dokumentieren konnten. „Frei fließende Flüsse sind für Mensch und Umwelt gleichermaßen wichtig, aber die wirtschaftliche Entwicklung auf der ganzen Welt macht sie immer seltener", so der Erstautor der Studie, Günther Grill von Department of Geography der McGill-Universität in Montreal. „Mithilfe von Satellitenbildern und anderen Daten untersucht unsere Studie das noch vorhandene Ausmaß sowie den Rückgang dieser Flüsse detaillierter als je zuvor."
Die Forscher überprüften für ihre Analyse den Status von über 300.000 Flüssen auf der Erde mit insgesamt fast zwölf Millionen Flusskilometern Länge. Hauptziel war dabei, die sogenannte Konnektivität zu beurteilen, die beschreibt, wie frei sich das Wasser samt der darin enthaltenen Organismen, Sedimente und Nährstoffe über die Jahreszeiten hin bewegen kann. Und zwar nicht nur im Flussbett selber von der Quelle bis zur Mündung, sondern auch in den seitlichen Überschwemmungsgebieten und in vertikaler Richtung zwischen Grund- und Flusswasser. Dämme und Deiche, die die Flusswege blockieren, den Transport von Sedimenten und Organismen behindern und den Wasserbestand verändern, wurden dabei ebenso unter die Lupe genommen wie den Uferbereich oder die Auen beeinträchtigende Infrastrukturen, beispielsweise Straßen.
Das Ergebnis war ziemlich ernüchternd: Nur noch 37 Prozent der 242 längsten Flüsse der Erde (mit mehr als 1.000 Kilometern Länge) können noch als halbwegs unverbaut angesehen werden. Von den 91 besonders langen Flüssen des Globus haben nur noch 21 eine direkte Verbindung mit dem Ozean, das sind gerade mal noch 23 Prozent. Vor allem die gigantischen Staudämme, von denen es derzeit rund 60.000 gibt, stellen ein großes Problem für die Umwelt dar, was sich künftig noch verschärfen wird, da derzeit mehr als 3.700 vergleichbare Mega-Anlagen in Planung oder Bau sind – mit fatalen Folgen für Süßwasser-Lebewesen. Diesbezüglich haben die Forscher auf andere Untersuchungen verwiesen, beispielsweise auf den aktuellen „WWF-Living Planet Report 2018", wonach infolge von Störungen der Konnektivität, beispielsweise durch starke Wasserentnahmen, die zum Austrocknen des Flussbetts führen können, im Verlaufe von gerade mal einem halben Jahrhundert die Arten-Population im Süßwasser-Bereich um 83 Prozent zurückgegangen ist. Nirgendwo sonst war bezüglich der Wirbeltiere ein solch dramatischer Verlust zu verzeichnen.
Unter den Mega-Strömen gibt es nur noch ganz wenige unverbaute Flüsse, in der Studie werden der Irrawaddy und der Saluen als erfreuliche Ausnahmen hervorgehoben. Beide verlaufen durch unwirtliche und dünn besiedelte Regionen. Der 2.170 Kilometer lange Irrawaddy entspringt im Südosten des Himalayas und fließt anschließend hauptsächlich durch Myanmar. Die Quelle des 2.980 Kilometer lange Saluen liegt in Tibet, er ergießt sich an der Küste von Myanmar in den Indischen Ozean.
Gestörter Transport von Nährstoffen
Die Forscher hoffen, mit ihrer Studie eine Hilfe für die internationale Staatengemeinschaft geliefert zu haben, die sich beim UN-Gipfel 2015 in ihrer Agenda 2030 auch das Ziel gesetzt hatte, künftig die wasserbezogenen Ökosysteme besser zu schützen. Die diesbezüglichen Herausforderungen infolge des Klimawandels und dem wachsenden Run auf erneuerbare Energien, was sich im Bau von immer neuen Staudämmen niederschlägt, werden fraglos weiter steigen. Künstliche Barrieren behindern nicht nur den Austausch von Tier- und Pflanzenarten mit schädlichen Folgen für die von der lokalen Binnenfischerei angewiesene Bevölkerung, sondern auch den Transport von Nährstoffen und Sedimenten, die für die nachhaltige Funktion des gesamten Ökosystems von zentraler Bedeutung sind.
Nur Flüsse, die eine ausreichende Sediment-Menge mit sich führen, können gewährleisten, dass sich ihr Delta über dem Meeresspiegel halten und sich dadurch auch extremen Flutangriffen erwehren kann. In die Elbe müssen jährlich rund 80.000 Kubikmeter Sand eingebracht werden, um den durch Staudämme verursachten Sedimentmangel auszugleichen. Ähnlich beim Rhein, in den jährlich 150.000 Kubikmeter Kies künstlich eingelassen werden müssen. Beispielhaft, um die freie Wanderung von Tieren wieder gewährleisten zu können, die an der Elbe-Staustufe Geesthacht für viel Geld errichtete größte Fischtreppe Europas. Laut dem Betreiber Vattenfall konnten seit Inbetriebnahme im Jahr 2010 mehr als zwei Millionen Fische ihre Wanderung flussaufwärts zu ihren Laichgebieten antreten.