Der Treffer von Jürgen Sparwasser zum 1:0 der DDR gegen die Bundesrepublik ist einer der großen Momente des deutschen Fußballs. Das Bruderduell bei der WM am 22. Juni 1974 war das einzige A-Länderspiel, das jemals zwischen den beiden Staaten ausgetragen wurde.
Es ist einer dieser Sportmomente, für deren Beschreibung es nicht viele Worte braucht. Eigentlich genügt es schon, den Namen des Prota-gonisten zu nennen, und jeder weiß sofort, was gemeint ist. Die Rede ist von Jürgen Sparwasser und seinem Treffer zum 1:0 für die DDR im deutsch-deutschen Bruderduell gegen die BRD bei der Fußball-WM 1974. Ein Mythos deutscher Fußballhistorie, so wie das Wembleytor und der Schuss von Helmut Rahn beim „Wunder von Bern" 1954.
Am 22. Juni 1974 wurde im Hamburger Volksparkstadion Geschichte geschrieben: Es war das erste und einzige Duell der A-Nationalmannschaften der beiden deutschen Staaten –
und das ausgerechnet bei der Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik. Zwar hatte es zuvor bereits mehrere Aufeinandertreffen der ostdeutschen Olympiaauswahl (die mit dem A-Team weitgehend identisch war) und der westdeutschen Amateur-Nationalmannschaft gegeben, doch dieses Mal stand die Begegnung unter ganz anderen Vorzeichen. Auch wegen der politischen Lage. „Das ist kein normales Länderspiel, sondern ein Beitrag auf dem Weg zum Miteinander", äußerte sich Bundesfinanzminister Hans Apel (SPD) vor dem Anpfiff.
BRD als Europameister klarer Favorit
Tatsächlich hatten sich die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten durch die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) seit Anfang der 70er-Jahre entspannt, doch von einer Normalisierung konnte weiterhin keine Rede sein. Dass Brandt kurz vor der WM aufgrund der Affäre um Günter Guillaume zurücktreten musste, nachdem der persönliche Referent des Kanzlers als Spion der DDR-Staatssicherheit enttarnt worden war, sorgte für zusätzliche Brisanz.
Einem Kind hatten die Fußballfans auf beiden Seiten der Mauer zu verdanken, dass es überhaupt zu dieser Begegnung kam. Der elfjährige Detlef Lange von den Schöneberger Sängerknaben hatte bei der Auslosung im Januar 1974 in Frankfurt am Main dafür gesorgt, dass die Gastgeber und die DDR in einer Gruppe landeten. Erst ging ein Raunen durch den großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks, doch dann klatschte das Publikum begeistert Beifall. „Das hat damals eingeschlagen wie eine Bombe, dass es endlich zu diesem Spiel kommt, auf das alle schon so lang gewartet hatten", erinnert sich Jürgen Sparwasser.
Vor allem für die DDR-Kicker war das Bruderduell die große Gelegenheit, der Welt endlich zu beweisen, was sie können. Denn trotz Olympiabronze 1972 und des Gewinns des Europapokals der Landesmeister durch den 1. FC Magdeburg 1974 wurde der ostdeutsche Fußball nach wie vor nicht wirklich ernst genommen. Sogar die eigenen Fans drückten bei der WM zum Teil lieber der DFB-Elf die Daumen. Die Rollen waren also klar verteilt, die Bundesrepublik als amtierender Europameister und WM-Dritter von 1970 klar favorisiert. Für die DDR war es dagegen die erste – und einzige – WM-Teilnahme ihrer Geschichte. Die „Bild" titelte vor dem Spiel entsprechend: „Warum wir heute gewinnen" und sah die Westdeutschen im direkten Positionsvergleich mit 7:4 im Vorteil.
Sportlich ging es in der Partie eigentlich nicht mehr um viel. Durch das torlose Unentschieden im anderen Gruppenspiel zwischen Australien und Chile stand bereits vor Spielbeginn fest, dass neben der BRD auch die DDR für die nächste Runde qualifiziert war. Es ging also lediglich noch um den Gruppensieg und darum, wer in der Zwischenrunde den stärkeren Gegnern vorerst aus dem Weg gehen würde. Trotzdem wollte keine der beiden Seiten dieses Spiel verlieren. Im Kampf der Systeme im Kalten Krieg war eine Niederlage gegen den Klassenfeind keine Option.
Für DFB-Trainer Helmut Schön hatte das Duell zudem noch eine persönliche Note. Er wurde in Dresden geboren, ehe er in den 50er-Jahren in den Westen übersiedelte und dort vor seinem Engagement als Bundestrainer unter anderem als Nationaltrainer des damals autonomen Saarlands tätig war. Vor dem Spiel gegen die DDR appellierte er daher an seine Mannschaft: „Spielt heute auch mal für mich."
60.000 Zuschauer waren an diesem historischen Tag im Stadion, aber Millionen saßen in beiden Staaten vor den Radios und Fernsehgeräten. Das Spiel war ein echter Straßenfeger. Auch rund 1.500 Anhänger aus der DDR waren nach Hamburg gekommen – handverlesen von der Staatssicherheit, die um jeden Preis verhindern wollte, dass DDR-Bürger die Gelegenheit nutzten, um sich in den Westen abzusetzen. Der „Spiegel" kommentierte: „Ein geschlossener Haufen verschlossener Leute. Die kamen nach Westen mit dem Vorsatz, sich auf West-Kontakte nicht einzulassen, ausgenommen den Erwerb von Bockwurst."
Auch auf dem Spielfeld agierten beide Mannschaften eher zurückhaltend. Bei den Nationalhymnen beider Länder sang niemand, und vor allem in der zweiten Halbzeit neutralisierten sich beide Teams über weite Strecken. Die größte Chance des Spiels hatte in der 39. Minute Gerd Müller für die BRD, der den Ball aus der Drehung gegen den Pfosten schoss.
Als sich alle schon auf ein torloses Remis eingestellt hatten, kam der große Auftritt von Jürgen Sparwasser. Heribert Faßbender kommentierte damals für die ARD: „Croy, der fängt ab und wirft ab. Wirft auf Hamann. Der Auswechselspieler von Vorwärts Ostberlin hat die Mittellinie überdribbelt. Sieht sich jetzt Beckenbauer gegenüber, zieht es vor, steil zu spielen, auf Sparwasser, schöne Aktion, Schussmöglichkeit. Und: Toooor! Sparwasser, der Magdeburger, nimmt den Ball auf, zieht an Cullmann, Vogts und Beckenbauer vorbei und lässt Sepp Maier keine Chance. In der 79. Minute führt die DDR mit eins zu null."
1988 setzte sich Sparwasser in den Westen ab
Danach brachte die DDR-Elf das Ergebnis über die Zeit. „Der Osten hält seine Mauer intakt", schrieb tags darauf die englische Zeitung „Sunday Telegraph". Deutlich nüchterner fiel dagegen das Fazit von DDR-Trainer Georg Buschner aus. Er analysierte treffend: „Die Mannschaft der Bundesrepublik verkrampfte psychisch und physisch, weil ihr das Erfolgserlebnis fehlte. Wir hatten das Glück, Außenseiter zu sein, und mussten somit nicht die Bürde tragen, die das Publikum unserem Gegner aufgeladen hat."
Der Sieg brachte der DDR indes nicht nur Vorteile. Weil auch Titelverteidiger Brasilien nur Gruppenzweiter wurde, fand sich die Mannschaft in der Zwischenrunde auf einmal in einer Gruppe mit den Brasilianern, der Niederlande und Argentinien wieder. Gegen diese starke Konkurrenz konnte man letztlich nicht bestehen. Trainer Buschner ahnte wohl schon, dass der Höhenflug ein baldiges Ende nehmen würde, als er nach dem BRD-Spiel sagte: „Unter den letzten Acht gibt es sieben Favoriten und einen Außenseiter – und der sind wir."
Die Bundesrepublik wurde dagegen durch die überraschende Pleite erst so richtig wachgerüttelt. „Die Niederlage gegen die DDR war gut für uns, so sehr sie uns damals natürlich geschmerzt hat", meinte rückblickend Franz Beckenbauer. Erst dadurch kam es zur mittlerweile legendären Aussprache der Spieler in der Sportschule in der Nacht von Malente, in der die Mannschaft laut Beckenbauer „aus einem zerstrittenen Haufen zu einer Einheit" wurde.
In der Zwischenrunde bezwang die BRD anschließend Jugoslawien, Schweden und die bis dahin so starken Polen, im Endspiel wurden die Niederländer mit 2:1 geschlagen. Damit wurde Deutschland nach 1954 zum zweiten Mal Weltmeister. Die Bilanz gegen die DDR blieb allerdings für alle Zeit negativ. Nie wieder trafen die Nationalmannschaften beider Länder in einem offiziellen Länderspiel aufeinander. Für die Qualifikation zur EM 1992 wurden sie zwar noch einmal in eine Gruppe gelost, doch wegen der Wiedervereinigung wurden die Partien nicht mehr ausgetragen.
Sparwassers Tor war im wahrsten Sinne des Wortes ein Treffer für die Ewigkeit. Ein Tor, das ihn zwar berühmt, aber nicht glücklich gemacht hat. In der Heimat kamen bald darauf Gerüchte auf, er würde von der SED-Regierung bevorzugt behandelt werden, was allerdings nicht der Fall war. Im Gegenteil: Sparwasser ging zunehmend auf Distanz zum Regime und verweigerte sich nach dem Ende seiner aktiven Karriere dem Wunsch der Funktionäre, den 1. FC Magdeburg zu trainieren. 1988 nutzte er ein Altherrenturnier in Saarbrücken zur Flucht in den Westen. Heute lebt er in Hessen und arbeitet in einer Fußballschule mit Kindern und Jugendlichen. Selbst die jüngere Generation kann mit seinem Namen immer noch etwas anfangen.