Die Debatte um die Kanzlerkandidaten läuft – zwei Jahre vor dem regulären Wahltermin. Bei der Union dürfte Annegret Kramp-Karrenbauer gesetzt sein, fest steht aber auch das nicht wirklich. Und bei der Konkurrenz? Alles offen.
Die Selbstzerstörung der großen Koalition ist in vollem Gange und die Wetten laufen, bis wann sie noch hält. Der einstige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück glaubt, dass es kein gemeinsames Weihnachtsfest mehr geben wird, andere sehen das Ende der politischen Zweck-Ehe noch viel früher. Es könnte schon im Spätsommer so weit sein. Was dann? Jamaika, also Schwarz-Gelb-Grün – oder Neuwahlen?
Ein neuer Wahlgang gilt als wahrscheinlichste Variante, schon allein deshalb, weil den Grünen bei den aktuellen Umfragewerten dabei gewaltige Zugewinne winken. Sie wären dumm, diese nicht zu nutzen.
Bei Union und SPD ist die Debatte um den Spitzenkandidaten entbrannt. Eigentlich dürfte bei der CDU deren Vorsitzende AKK gesetzt sein. Aber auch hier gibt es plötzlich kritische Stimmen. In der Partei wächst der Zweifel daran, ob sie wirklich die richtige Kandidatin ist. Bei der SPD ist alles noch viel unklarer, sie muss erst mal einen richtigen Parteichef finden.
Und warum überhaupt die ganze Debatte? Die Bundestagswahlen sollen regulär erst 2021 stattfinden - traditionell beginnt der Wahlkampf in Deutschland erst etwa ein Jahr vor dem Wahltermin. Die Debatte verrät, dass offenbar in allen Parteien mit baldigen Neuwahlen gerechnet wird. Und was taugen Traditionen heute noch? Die Regeln des politischen Spiels wandeln sich derzeit grundlegend.
Die wichtigste Veränderung: das Ende der bipolaren Parteienwelt. Seit der ersten Bundestagswahl 1949 dominierten Union und Sozialdemokraten den deutschen Wahlkampf. Sie geben die beiden grundlegenden Richtungen vor. Spätestens 1961 begann dann die personelle Zuspitzung der Wahlkämpfe auf zwei Kanzlerkandidaten. Der SPD-Spitzenkandidat Willy Brandt hatte sich den neuen Politstar in den USA zum Vorbild genommen und sah sich als deutscher Kennedy. Dass die beiden großen Parteien Union und SPD seither mit einem Kanzlerkandidaten antreten, ergänzte das deutsche Wahlsystem jahrzehntelang sehr gut, das eigentlich nur Parteien wählen lässt. Mit dem Einzug eines Fernsehers in nahezu jeden Haushalt war eine solche Personalisierung unausweichlich.
TV-Duell demnächst zu dritt?
Heute aber ist das bipolare System am Ende, die Zeit der beiden großen Volksparteien vorbei. Demnächst werden sich zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht mehr nur zwei, sondern mehr Kandidaten realistische Chancen auf die Kanzlerschaft ausrechnen. Das hat spannende Konsequenzen. So gibt es seit vielen Jahren im deutschen Fernsehen das Kanzlerduell nach dem Vorbild der USA, das am Ende nur zwei Kontrahenten zulässt. Zuletzt kam es am 3. September 2017 zu einem solchen Duell zwischen Angela Merkel und Herausforderer Martin Schulz von der SPD. Aber schon der Titel „Herausforderer" ist künftig nicht mehr eindeutig.
Kanzlerkandidat ist zwar kein formeller Titel, aber für die Zulassung zum TV-Duell ist er entscheidend. 2002 scheiterte die FDP dabei, ihren Spitzenkandidaten Guido Westerwelle, der damals als Kanzlerkandidat antrat, mit auf die Bühne zu lassen. Die Ablehnung der TV-Sender hielt vor dem Verfassungsgericht stand, mit der Begründung der Richter, das Konzept sehe ein Duell vor zwischen denen, die „allein ernsthaft damit rechnen können" auch als Bundeskanzler gewählt werden zu können. Der Kandidat der FDP habe „keine realistische Aussicht" – was dieser „letztlich nicht bestreitet", so die Richter. Heute, 17 Jahre später, könnten die Hüter der deutschen Verfassung ein solches Begehren nicht mehr so nonchalant ablehnen – wenn es etwa von den Grünen käme.
Ob allerdings tatsächlich drei Kanzlerkandidaten antreten werden, ist völlig offen. Vielleicht bleibt es ja doch bei zweien.Wenn die SPD ehrlicherweise bekennt, dass ihr Kandidat ohnehin keine Chance auf eine Mehrheit hat. So gab es bereits aus der Partei selbst den Vorschlag, auf einen Kanzlerkandidaten zu verzichten. Es wäre glaubwürdiger und würde ihrem Kandidaten die Lächerlichkeit ersparen, behaupten zu müssen, eine absolute Mehrheit anzustreben.
Bei der Kanzlerkandidaten-Frage ist aber auch Vorsicht geraten. Zuletzt hat die SPD leidvolle Erfahrungen damit gemacht, dass man einen Namen auch verbrennen kann, wenn man ihn zu früh nennt. Eine schwierige Abwägung, die keine Partei so richtig beherrscht. Immer beliebter wird auch daher die Idee einer sogenannten Urwahl – also die Wahl eines Spitzenkandidaten durch die Parteibasis. Das hilft bei der Mobilisierung und erscheint zudem demokratischer. Nicht nur SPD, auch Grüne und Union liebäugeln mit diesem Modell. Was eigentlich wiederum von den USA abgeschaut ist, wo die Parteien ihren Spitzenkandidaten in Vorwahlen bestimmen. Möglicherweise läuft es in Deutschland gerade auch auf ein solches Wahlsystem in zwei Stufen hinaus. Das wird in den Vereinigten Staaten längst praktiziert- auch in Deutschland könnte es die logische Antwort auf das Verschwinden der hiesigen Volksparteien sein.