Bei der diesjährigen Tour de France steht das Gelbe Trikot noch stärker im Mittelpunkt als sonst: Es feiert seinen 100. Geburtstag. Wer gewinnt das Jubiläumsrennen?
Henri Desgrange war nicht nur Begründer der Tour de France, sondern auch Herausgeber der französischen Sportzeitung „L‘Auto". Als solcher wusste der Geschäftsmann, dass die Optik eine große Rolle spielt. Für die Neuauflage der Großen Schleife 1919, nach vier Jahren Weltkrieg, wollte Desgrange unbedingt, dass der Gesamtführende farblich aus dem Feld heraussticht.
Warum die Wahl letztlich auf Gelb fiel, darüber herrscht unter den Sporthistorikern Uneinigkeit. Manche behaupten gar, zu jener Zeit hätte keine andere Stofffarbe zur Verfügung gestanden. Wie auch immer: Das Gelbe Trikot entwickelte sich zu einer Weltmarke, das über die Radsportgrenzen hinaus erkannt wird. Durch viele Dopingskandale ist das „maillot jaune" zwar oft beschmutzt worden, doch die Faszination bleibt. „Das Gelbe Trikot ist die höchste Krönung. Es ist eine Ehre, es zu tragen", sagte einmal Spaniens Fünffachsieger Miguel Indurain: „Es ist der Heilige Gral." Auch heute hat es von seinem Zauber nichts verloren. Als Vorjahressieger Geraint Thomas „dieses mystische Trikot" zum ersten Mal überziehen durfte, habe er später im Hotelzimmer „vor dem Spiegel ein Foto gemacht und es meiner Frau geschickt".
Bei der am 6. Juli mit der Auftaktetappe in Brüssel beginnenden 106. Tour de France feiert das Gelbe Trikot seinen 100. Geburtstag. Bislang durften sich in der Geschichte 266 Fahrer das grelle Stück Stoff überziehen, viele von ihnen kämpften ehrenhaft um diese Auszeichnung. Andere mit unerlaubten Mitteln. „Das Gelbe Trikot ist eines der größten Symbole in der Geschichte des Sports", sagt Tour-Direktor Christian Prudhomme: „Es hat alles erlebt: Das Gute, die größten Helden, aber auch das Schlechte, den Betrug. Und warum? Es ist wie das Leben."
Wer am 28. Juli das begehrte Trikot des Gesamtbesten bei der letzten Etappe von Rambouillet nach Paris über die berühmte Champs-Élysées tragen will, muss sich auch in diesem Jahr als kompletter und leidensfähiger Radfahrer präsentieren. Sieben Flachetappen stehen auf dem Programm, fünf hügelige und sieben Bergetappen, dazu gibt es jeweils ein Mannschafts- und ein Einzelzeitfahren.
Faszination bleibt – trotz Skandalen
Ein Topfavorit, der sich gute Chancen auf eine Revanche für seine Niederlage gegen Thomas im Vorjahr ausgerechnet hatte, kann jedoch nicht an den Start gehen. Der viermalige Gesamtsieger Chris Froome verletzte sich bei einer Streckenbesichtigung für das Zeitfahren des Critérium du Dauphiné in Roanne schwer, als er auf einer Abfahrt mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Wand prallte. Nach Angaben seines Teams Ineos brach sich der 34 Jahre alte Brite den rechten Oberschenkelknochen, einen Ellenbogen und mehrere Rippen. Teamchef Dave Brailsford bedauerte: „Es wird ziemlich lange dauern, bis er wieder Rennen fährt."
Eine Woche später gab es die nächste Hiobsbotschaft für das neue Team: Thomas, der nach Froomes Ausfall fast freie Fahrt nach ganz oben aufs Podium zu haben schien, stürzte bei der Tour de Suisse ebenfalls schwer. Der 33 Jahre alte Waliser wurde zuerst auf der Strecke minutenlang von Ärzten behandelt und dann ins Krankenhaus zu näheren Untersuchungen gebracht. Seine Tour-Generalprobe musste Thomas aufgeben, sein Start in Frankreich war zumindest fraglich.
Unfälle gehören zum Radsport dazu und haben seit jeher die Hierarchie durcheinandergewirbelt. Mit den zwei gesunden Topfahrern Froome und Thomas hätte der Rennstall Ineos, der einen Großteil der vormaligen Sky-Mannschaft übernommen hat und dem britischen Chemie-Unternehmer Jim Ratcliffe gehört, wohl zweifellos die dominierende Rolle bei der diesjährigen Großen Schleife eingenommen. Aber nun? „Es ist die Straße, die entscheidet, wer der Stärkste ist", sagte Thomas.
Ein langes Einfahren wird es in diesem Jahr nicht geben, denn die Macher haben sich entschieden, bereits auf der zweiten Etappe ein Mannschaftszeitfahren zu absolvieren, bei dem sich die Leute für das Gesamtklassement bereits keine Schwäche leisten dürfen. Zwei frühe Bergetappen in den Vogesen, anspruchsvolle Teilstücke zwischen den Gebirgen und gleich drei Bergankünfte auf jeweils über 2.000 Metern sollen ebenfalls dafür sorgen, dass im Kampf um das Gelbe Trikot so wie im vergangenen Jahr keine Langeweile aufkommt.
Für den Sprung nach ganz vorne wird es für Emanuel Buchmann wohl nicht reichen, doch einen Top-Ten-Platz hat sich der Kapitän des deutschen Teams Bora-Hansgrohe fest vorgenommen. Kein unrealistisches Ziel, schließlich ist der nur 62 Kilo schwere Kletterspezialist bislang eine starke Saison gefahren. „Bis jetzt bin ich sehr zufrieden", sagt der 26-Jährige: „Ich habe mich über den Winter noch mal gesteigert und bin auch alle Rennen sehr gut gefahren."
Wenig Hoffnung für die Deutschen
Als Buchmanns Edelhelfer könnte sich Maximilian Schachmann profilieren. Der 25-Jährige ist zwar kein so exzellenter Fahrer im Hochgebirge wie sein Teamkapitän, doch hügeliges Gelände ist sein Terrain. Das prädestiniert ihn jedoch auch für eine Ausreißergruppe. Ein Tagessieg bei der ersten Tour-Teilnahme für den Berliner wäre keine Sensation mehr, nachdem er beim Giro d‘Italia vor einem Jahr mit einem Etappensieg bereits für großes Aufsehen gesorgt hatte.
32 Etappensiege haben die deutschen Radrennfahrer in den vergangenen acht Jahren bei der Tour eingefahren und damit hierzulande für eine Renaissance der nach etlichen Dopingskandalen am Boden gelegenen Sportart gesorgt. Im Vorjahr trug sich auch John Degenkolb in die Siegerliste ein. Nach sechs zweiten Plätzen hatte sich der Klassiker-Spezialist endlich seinen großen Traum erfüllt. Ein zweiter Sieg wird wohl vorerst nicht dazukommen, denn Degenkolb hatte Mitte Juni in einem Interview sein Tour-Aus angedeutet. Sein US-Rennstall Trek-Sagafredo konzentriert sich bei der Zusammensetzung des Teams voll auf den Australier Richie Porte, der einen Angriff auf das Gelbe Trikot wagen will.
Zuvor hatte bereits Sprintstar Marcel Kittel seine Teilnahme am Saisonhöhepunkt abgesagt. Der 31-Jährige, der seit seinem Tour-Debüt 2012 insgesamt 14 Etappen gewinnen konnte, löste am 9. Mai seinen Vertrag bei Katusha Alpecin auf und denkt nach einer sehr schwierigen Saison mit körperlichen Beschwerden über seine Zukunft nach.
Tony Martin, der seine elfte Frankreich-Rundfahrt bestreitet, ist dagegen wieder am Start. Doch anders als in den Vorjahren hat er diesmal keine großen persönliche Ambitionen. Der 34-Jährige ist in seinem neuen Team Jumbo-Visma aus den Niederlanden vor allem als Helfer vorgesehen. Womöglich kann der vierfache Zweitfahr-Weltmeister im Kampf um die Uhr noch mal eine Top-Platzierung einfahren.
Nils Politt hat andere Ambitionen. Der Kölner ist ein ausgewiesener Klassiker-Fahrer, der sein Glück in Ausreißergruppen suchen wird. Die „freie Rolle", die er im Team Katusha Alpecin einnehmen wird, will der 25-Jährige für viele und möglichst erfolgreiche Attacken nutzen. Ein zweiter Platz wie im Frühjahr beim großen Klassiker Paris-Roubaix wäre keine große Überraschung mehr.
Wetten auf den Sieger des Grünen Trikots für den besten Sprinter des Feldes sind sogar noch unattraktiver. Der Slowake Peter Sagan ist der große Favorit, ein siebter Triumph in dieser Kategorie wäre neuer Tour-Rekord. Der Sprinter von Bora-Hansgrohe hat die seltene Gabe, auch über die Berge relativ problemlos zu kommen.
Kein neuer Eddy Merckx in Sicht
Beim gepunkteten Trikot für den erfolgreichsten Bergfahrer gibt es keinen eindeutigen Favoriten. Oft entscheiden sich Teams erst im Tourverlauf, in dieser Wertung auf einen Mann zu setzen –
so wie im Vorjahr beim späteren Sieger Julian Alaphilippe. Der Franzose geht auch diesmal nicht mit dem Vorsatz an den Start, das weiße Trikot mit den roten Punkten zu gewinnen. „Es könnte ein Ziel werden", sagt er, „aber es gibt auch schöne Dinge, die ich zu Beginn der Tour erreichen kann."
Der Grand Départ am 6. Juli in Brüssel steht ganz im Zeichen des belgischen Tour-Helden Eddy Merckx, dessen erster Gesamtsieg 50 Jahre her ist. „Eddy ist eine Legende, wenn nicht die Legende unseres Sports", sagt Froome. Es werde nie mehr einen besseren Fahrer geben, glaubt der Brite, denn: „Er hat auf so vielen unterschiedlichen Terrains gewonnen."
Beim ersten seiner insgesamt fünf Tour-Siege dominierte Merckx dermaßen, dass er sich den Spitznamen „Kannibale" verdiente. Merckx, der 1996 vom belgischen König in den Adelsstand erhoben wurde, trug insgesamt 96 Tage das Gelbe Trikot. Und er bekam nie genug davon. So wie viele seiner Nachfolger, die auf der Jagd nach dem „maillot jaune" bis an die Grenzen der Belastbarkeit und des Erlaubten gehen – und manche auch darüber hinaus.