Das Phänomen Greta Thunberg: Eine Symbolfigur für eine Bewegung – und ein Ersatz für konsequentes privates Handeln?
Inzwischen muss man sie nicht mehr vorstellen: Greta Thunberg, Schwedin, Tochter einer Opernsängerin und eines Schauspielers, die weltweit bekannteste Umwelt- und Klimaschutzaktivistin. Als sie am 20. August 2018 loslegte vor dem Stockholmer Parlamentsgebäude und dort jeden Freitag in den Sitzstreik trat, mit nichts bewaffnet als einem weißen Plakat mit schlichter Message „SKOLSTREJK FÖR KLIMATET", war sie gerade einmal 15 Jahre alt. Ein pausbäckiges Mädchen, fast ein Kind noch. Aber ein Mädchen mit einem festen, ja unbequemen Willen, das sich nichts Geringeres in den Kopf gesetzt hatte, als die Erde zu retten – verwegen, ungeheuerlich, frech!
Die Sache hätte schiefgehen, sich im Sande verlaufen können, wie so viele andere ähnliche Aktionen. Doch das Gegenteil trat ein. Gretas Bekanntheit nahm zu, jeden Tag mehr. Kritisch betrachtet, verdankt sich Gretas Aufstieg aber auch mehreren Umständen. Zugute kam ihr die Prominenz ihrer Mutter. Zugute kam ihr auch ein Schreibwettbewerb des „Svenska Dagbladet" zur Umweltpolitik, den sie gewann und der sie mit Klimaaktivisten in Kontakt brachte. Die Medien waren früh schon an Greta Thunbergs Seite.
Vor wenigen Monaten erschien sogar eine Art Autobiografie auf Deutsch. Daran mitgewirkt haben alle Familienmitglieder: Greta und ihre jüngere Schwester Beata, der Vater Svante Thunberg. Vor allem aber die Mutter Malena Ernman. Diese ist die eigentliche Erzählerin. Und das hat auch etwas Befremdliches, denn man erwartet, mehr über Greta von Greta selbst zu erfahren. Doch stattdessen berichtet die Mutter, und sie berichtet über vieles, auch aus ihrem eigenen Leben, von ihren Aufstieg zur „berühmten" Opernsängerin. Auch so manch gewagte These liefert sie mit – und die eine und andere Abrechnung mit dem Schulsystem. Das Buch ist im Kern als Familiengeschichte konzipiert. Es erschien in Schweden bereits 2018 vor Greta Thunbergs Teilnahme an der Klimakonferenz in Kattowitz im Dezember 2018, also bevor sie durch ihre Rede dort international Aufmerksamkeit erregte. Behandelt werden im Buch Gretas Entwicklung ab der fünften Klasse: erste Depressionen, lebensbedrohliche Ess- und Zwangsstörungen, Krankenhausaufenthalte, die Diagnose Asperger. Und dann das Schlüsselerlebnis in der Schule: ein Unterrichtsfilm über die radikale Verschmutzung der Weltmeere. Ein Schlüsselerlebnis auch deshalb, weil der Moment nicht kognitiv erlebt, sondern mit allen Sinnen erfahren, ja durchlitten wird. Malena Ernman über diese besondere Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Tochter: „Greta gehört zu den wenigen, die unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge erkennen können. Sie sieht, wie die Treibhausgase aus unseren Schornsteinen strömen, mit dem Wind in den Himmel steigen und die Atmosphäre in eine gigantische unsichtbare Müllhalde verwandeln."
Inzwischen fliegen ihr die Ehrungen nur so zu. Am 7. Juni erst sprach ihr Amnesty International den „Ambassador of Conscience Award" zu. Selbst vom Friedensnobelpreis ist die Rede. Keine Frage: Greta Thunberg avanciert zur Hoffnungsträgerin und zur Symbolfigur.
Eins ist klar: Die Stockholmer Gymnasiastin hat den Protest gegen den Klimawandel nicht erfunden. Warner vor der globalen Erwärmung gibt es schon lange, sehr lange. Svante Arrhenius, wieder ein Schwede, prophezeite schon 1908 einen durch Kohlendioxidemissionen verursachten Klimawandel. Andere Forscher folgten und verwiesen auf die weltweiten Gefahren für Mensch und Natur. 1979 kam es zur ersten Weltklimakonferenz. Fast zeitgleich fanden die Themen Umwelt, Umweltverschmutzung, Umweltschutz Einzug in die Schulen. Im Leistungsfach Biologie sprachen verantwortungsvolle Lehrer Klartext, wie es um unseren Planeten steht. Die Bedrohung wurde greifbar. Schlagwörter wie Smog, Treibhauseffekt, FCKW, Ozonloch, Polkappenschmelze, saurer Regen, Waldsterben bestimmten den Unterricht, den Alltag und vermehrt auch die Politik.
Haben wir Älteren wirklich versagt?
Man kann nicht sagen, dass nichts getan wurde. Seit 1995 tagt jährlich eine UN-Klimakonferenz. Bedeutsam besonders die Klimakonferenz von Paris 2015, bei der sich 195 Staaten darauf einigten, die weltweite Erwärmung auf zwei Grad, besser noch 1,5 Grad, zu begrenzen. Um dieses Ziel zu erreichen, so der ratifizierte Vertrag, muss der Ausstoß aller klimaschädlichen Gase ab der Mitte dieses Jahrhunderts auf null runtergefahren werden.
Das ist ambitioniert, aber reicht das auch? Und ist darauf Verlass? Hier nun melden sich die Skeptiker. Und dazu gehört auch die von Greta Thunberg angestoßene weltweite Jugendprotestbewegung „Fridays for Future". Die Kritik richtet sich gegen vieles: Klimaschutzziele, die immer wieder infrage gestellt wurden oder zu lasch sind. Zu enge Anbindung von Regierungen und Industrie, Lobbyismus, der Entwicklungen zum Schutz des Planeten behindert. Und last but not least der durch Donald Trump 2017 initiierte Austritt der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen.
Wenn ein Land mit dem weltweit zweitgrößten Treibhausgasausstoß so mir nichts dir nichts, langwierige Prozesse ad absurdum führen kann, indem wenige Mächtige den Klimawandel schlichtweg leugnen, obwohl dasselbe Land jährlich mit den Auswirkungen des Klimawandels – nämlich Dürre, Brände und Anstieg des Meeresspiegels in Kalifornien, Stürme und Überflutungen in Florida und Louisiana – zu kämpfen hat, dann besteht Grund zu großer Sorge.
Und eben weil das alles so leicht ist, dürfte sich jeder aus den Generationen vor Greta Thunberg fragen, was er eigentlich in den letzten Jahrzehnten aktiv für die Verbesserung des Klimas getan hat. Es steht zu befürchten, dass die selbstkritische Prüfung nicht wirklich positiv ausfällt. Dass man allenfalls Handlungen im Kleinen nennen kann: vermehrter Kauf von Bioprodukten, Fahrrad statt Auto, Mülltrennung, Spenden an Umweltschutzorganisationen. Alles zweifelsohne gut, aber angesichts der globalen Bedrohung auch genug? Spätestens wenn man sich seine Reisebilanz ansieht: wie oft man alleine im Auto saß, Flüge oder Kreuzfahrten absolviert hat, dann könnte es kritisch werden.
Stattdessen nun eine 16-Jährige, die den Protest um den Planeten schickt, für uns um den Planeten schickt, wäre zu ergänzen, und der sich immer mehr Jugendliche anschließen. Allein am
15. März dieses Jahres sollen es knapp zwei Millionen Menschen gewesen sein, die an der „Fridays for Future"-Bewegung weltweit teilnahmen. Politische Parteien, die sich wie die Grünen von jeher jugendlich geben, konnten davon enorm profitieren, zuletzt bei der Europawahl. Andere Parteien, die sogenannten Volksparteien, eher nicht. Und all jene Politiker, die die Jugendlichen in die Ecke von Schulschwänzern zu rücken versuchten, dürften sich um etliche Wählerstimmen gebracht haben.
Inzwischen hat Greta Thunberg angekündigt, die Schule ab diesem Sommer nach dem Ende der neunten Klasse für ein Jahr auszusetzen, um sich ganz dem Kampf gegen die Klimakrise zu widmen. Dazu gehört auch die Teilnahme am Klimagipfel in New York im September und an der Weltklimakonferenz in Santiago de Chile im kommenden Dezember. Die Anreise will Greta Thunberg auf ihre Weise bewältigen. Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Schiff will sie den Atlantik überqueren.