Der neue Bürgermeister von Istanbul profiliert sich als Anti-Erdogan
In jeder Regierungsform gibt es ein ehernes Gesetz: Politische Macht ist Herrschaft auf Zeit. In die Mechanik der Demokratien ist dieser Grundsatz in Form von Wahlen eingebaut. Selbst Helmut Kohl, der Titan der deutschen Einheit, musste nach 16 Kanzlerjahren dem Verschleiß und der Unbeweglichkeit seiner Führung Tribut zollen. Zu groß war in der Bevölkerung der Wunsch nach Wechsel.
Aber auch autoritär gefärbte Systeme leiden unter Lähmung und Status-quo-Denken. Der russische Präsident Wladimir Putin erzielt längst nicht mehr die Zustimmungsraten wie zu Beginn seiner Amtszeit. Militär-Interventionen wie in Syrien mögen zeitweise für patriotische Stimmungsfontänen sorgen. Doch auf Dauer können sie mickrige Löhne und Renten sowie hohe Mieten in Metropolen nicht kompensieren.
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan bekommt nun ebenfalls die Abnutzungserscheinungen seines Imperiums zu spüren. In Istanbul, mit 16 Millionen Einwohnern die größte Stadt des Landes, siegte der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu im zweiten Durchgang der Bürgermeisterwahl. Der 49-Jährige profilierte sich als Anti-Erdogan. Er trat nicht als spalterischer Haudegen auf, sondern gab sich als der große Versöhner und Konsenspolitiker. Er sprach über Kindergartenplätze, Grünanlagen sowie verkehrsberuhigte Zonen. Sein Kontrahent, der frühere Ministerpräsident Binali Yildirim, attackierte und holzte bei jeder Gelegenheit. Doch er wirkte wie ein müder Abklatsch Erdogans.
Die Menschen in Istanbul hatten genug von Polarisierung. Sie waren der Selbstgefälligkeit und Abgehobenheit des Präsidenten und seiner Paladine müde. 25 Jahre hatten die islamisch-konservative AKP und ihre Vorgängerparteien in der Metropole am Bosporus das Sagen. Erdogan begann dort in den 90er- Jahren seine politische Laufbahn als Bürgermeister. Seine Leute knüpften ein enges Netz von Seilschaften, schanzten Günstlingen Posten und befreundeten Unternehmern lukrative Aufträge zu.
Der Filz der Großstadt wurde zur Machtbasis der AKP – und für Erdogan. „Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei", lautete der Wahlspruch des Aufsteigers. Er wurde erst Ministerpräsident und boxte nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 eine Präsidial-Autokratie mit fast unbeschränkten Vollmachten durch. Tausende Richter, Staatsanwälte und Lehrer wurden entlassen; angeblich, weil sie mit dem Drahtzieher der niedergeschlagenen Militäraktion, dem im US-Exil lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen, unter einer Decke steckten. Unabhängige Medien mussten schließen oder wurden an Erdogan-Freunde verkauft. Viele Journalisten landeten auf der Straße.
Erdogans Bulldozer-Kurs verprellte die Hälfte der türkischen Bevölkerung. Es war ein Leben im Belagerungszustand – mit dem kontrollierenden Arm des Staates immer in Griffweite. Alle sollten nach Erdogans Pfeife tanzen, sogar die Zentralbank des Landes. Als die Währungshüter angesichts der anziehenden Inflation die Zinsen nicht weiter senken wollten – dies hätte die Preise weiter nach oben getrieben –, rastete der Präsident aus. Doch die Wirtschaft unterwirft sich nicht der Willkür eines Herrschers. Sie richtet sich nach den Gesetzen des Marktes.
Erdogan machte den Fehler, von der Konzentration seiner Macht besessen zu sein. Dass er die Konjunktur mit Mega-Projekten wie Flughäfen, Autobahnen und Tunneln überhitzte, dabei das Leben der Menschen aus dem Blick verlor – viele leiden unter Arbeitslosigkeit, Mietpreisexplosion, Währungsverfall –, dafür bekam er bei der Bürgermeisterwahl von Istanbul die Quittung.
Ekrem Imamoglu, das neue Stadtoberhaupt, verfolgt nun ein Gegenmodell zu Erdogan. Er will sozialen Ausgleich, Integration und transparente politische Verfahren. Es ist ein Signal für eine andere Türkei. Dies ist in Istanbul sicher einfacher als im Rest des Landes. Keine Stadt ist so liberal, offen und nach Westen orientiert wie das wirtschaftliche Zentrum zwischen Europa und Asien.
Aber es wird für Imamoglu nicht reichen, nur Sehnsüchte und Träume zu wecken. Er muss im Amt liefern. Dann – und nur dann – hat er gute Chancen, Erdogan bei der Präsidentschaftswahl 2023 zu beerben. Eines lässt sich allerdings bereits heute sagen: Der Sultan von Ankara hat den Zenit seiner Macht überschritten.