2011 das verheerende Erdbeben, vor einigen Monaten der Terroranschlag. Doch Christchurch in Neuseeland arbeitet weiter daran, dass Touristen gerne in die Stadt kommen.
Als Roger Evans von seinem Bürostuhl kippte, dachte er zunächst, er hätte einen Schlaganfall. „Ich hatte so etwas noch nie erlebt", sagt der 63-Jährige. „Vor deinen Augen dreht sich die Welt. Alles schwankt, du weißt nicht warum, und ehe du dich versiehst, liegst du am Boden." Regale stürzten um, Fensterscheiben gingen zu Bruch, Kollegen flüchteten panisch unter die Tische. Es war der 22. Februar 2011. Der Tag, an dem die Erde in Christchurch bebte. Der Tag, der Christchurch viel Zerstörung und Kummer bereitete – und später ein beachtliches Comeback.
Roger Evans, ein Brite, war als 50-Jähriger nach Neuseeland gekommen, um beruflich noch einmal neu durchzustarten. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern blieb er in Christchurch hängen, der drittgrößten neuseeländischen Stadt mit knapp über 400.000 Einwohnern. Das milde Klima, die lockere Lebensart, die idyllische Lage am Meer: All das hatte Evans imponiert. Auch mit dem Job klappte es schnell: Er bekam eine Stelle im Rathaus, arbeitete für den Stadtrat. Ein glückliches Leben, wie es schien. Bis zum 22. Februar 2011, 12.51 Uhr.
„Nach dem ersten Beben schickte uns unser Chef nach Hause", erinnert sich Evans. „Ich hatte mein Fahrrad in der Tiefgarage geparkt, durfte aber nicht mehr rein wegen der Einsturzgefahr." Also machte er sich zu Fuß auf den Heimweg, ohne Handynetz, ohne Kontakt zur Familie. Um ihn herum zerstörte Straßen und geborstene Rohre. „Ich musste hüfthoch durchs Abwasser waten", erzählt Evans, noch immer gezeichnet von dem, was damals passierte. Das Paradies am anderen Ende der Welt hatte er sich anders vorgestellt.
Sanierte Häuser, neue Einkaufszentren
Wenn er heute über das Erdbeben spricht, läuft ein Film vor seinem inneren Auge ab. Wie er sich freut, die Familie unbeschadet zu Hause anzutreffen. Wie alle auf dem Schulhof der Tochter campieren und vier Tage auf mobile Toiletten warten. Wie die Nachbarschaft zusammenhält und jeder das Wenige teilt, was er hat. Vereint in der Not, aber entschlossen, das Beste daraus zu machen. Es sind Erinnerungen, die nach dem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch jetzt wieder hochkommen. Damals, im Jahr 2011, starben 185 Menschen. Ganze Stadtviertel mussten geräumt, 1.500 Gebäude abgerissen werden. Die bei Touristen beliebte Metropole hatte plötzlich kaum noch Attraktionen. Die historische Kathedrale: teilweise eingestürzt. Das Rugby-Stadion: nicht reparabel. Die Flaniermeile in der Innenstadt: weiträumig abgesperrt. Folglich brachen die Besucherzahlen dramatisch ein. Von über einer halben Million internationaler Passagiere, die vor der Katastrophe am Flughafen gelandet waren, kamen 2013 nur noch 397.000 in Christchurch an. Doch dann die Wende. So heftig das Erdbeben war, so entschlossen zeigten sich die Einwohner, ihre Heimat nicht untergehen zu lassen. Wer heute eine Bus-Tour durch die Innenstadt macht, sieht frisch geteerte Straßen, sanierte Einfamilienhäuser, kürzlich eingeweihte Einkaufszentren. An manchen Stellen wirkt es so, als sei die Stadt nicht über 170 Jahre alt, sondern gerade erst entstanden. Neue Kinos, neue Banken, neue Autohäuser, gegenüber ein nagelneuer Justizpalast, um die Ecke ein neuer Busbahnhof, nicht zu vergessen die neue Stadtbibliothek. Neu, neu, neu. Überall ragen Kräne in die Höhe, Kreissägen und Bohrmaschinen rattern.
„Wir haben unsere Lektion gelernt", versichert der Stadtführer, während der Bus an unzähligen Baugerüsten vorbeifährt. Auf den Bürgersteigen schleppen Passanten Einkaufstüten herum, die Cafés sind prall gefüllt. „Das ist unsere Shopping-Therapie", meint der Guide. „Irgendwie müssen wir unser Trauma doch überwinden." Dass alles nicht noch schlimmer kam, habe auch an der „Erdbeben-Abgabe" gelegen, die alle Neuseeländer entrichten müssten. „Ohne diesen Fonds wäre die Stadt verloren gewesen. Zum Glück war er gut gefüllt, weil wir vorher lange kein derart schlimmes Erdbeben hatten."
Ausstellung beschäftigt sich mit Erdbeben
Roger Evans, der britische Auswanderer, sieht die Sache etwas anders. „Welche Stadt hat schon die Chance, komplett neu anzufangen?", fragt der 63-Jährige. „Wir hätten komplett auf Nachhaltigkeit setzen können: mehr Radwege, ein besserer Nahverkehr, weniger Autos. Stattdessen bauen wir alles einfach wieder wie vorher." Auch die Entschädigung privater Hausbesitzer sieht er kritisch: „Geld allein reicht nicht. Ich habe Freunde, deren Häuser zum vierten Mal saniert werden müssen, weil bei den Reparaturen gepfuscht wurde." Laut einem Bericht der „Otago Daily Times" waren 2.600 von 470.000 Schadenanträgen im März 2018 noch nicht ausbezahlt worden. Ob das nun viel ist oder wenig, ist wohl Ansichtssache. Fest steht, dass sich die Katastrophe ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Und dass die Christchurcher es schafften, das Beste daraus zu machen. Als der Strom nach dem Erdbeben ausfiel, setzten sich die Einwohner kurzerhand selbst aufs Fahrrad, um Strom für ein improvisiertes Kino zu produzieren. Weil viele Geschäfte zerstört oder unbetretbar waren, entstand eine „Container-Mall", die sogar im „Lonely Planet" auftauchte – und Christchurch touristisch dann doch wieder interessant machte. Genau wie die 2013 eröffnete „Transitional Cathedral". Die pyramidenförmige Übergangskirche wurde aus den Trümmern der zerstörten Erdbebenhäuser gebaut und dient noch heute als beliebtes Fotomotiv.
Auch zum Erdbeben selbst gibt es eine Anlaufstelle, genannt Quake City. Die Ausstellung, die zum renommierten Canterbury Museum gehört, wurde ebenfalls 2013 eröffnet. Mit Fotos, Videos, Lego-Modellen und Alltagsgegenständen zeichnet das Museum die Geschehnisse vom 22. Februar 2011 nach. So gibt es die Glocke einer eingestürzten Kirche zu sehen. Oder das Geschirr eines Rettungshundes, der bei der Suche nach Verschütteten half. Dass die Menschen trotz allem ihren Humor nicht verlieren, zeigen die „Aftershock"-Bierflaschen in der Sammlung. Eine Brauerei in Christchurch hatte sie nach einem Erdbeben im Jahre 2010 hergestellt. Alkoholgehalt: 7,1 Prozent – genauso hoch wie die Stärke des Bebens. „Ursprünglich haben wir diese Ausstellung für die Einheimischen konzipiert", erklärt Neil Phillips, der Kurator von Quake City. „Innerhalb der Stadt gab es das starke Bedürfnis, einen Ort der Erinnerung zu schaffen." Erst später habe sich die Kollektion, die inzwischen in einem eigenen Gebäude residiert, zu einer Touristen-Attraktion entwickelt. Makaber findet Phillips das nicht, sondern menschlich. „Die Leute, die hier Urlaub machen, wollen wissen, was in Christchurch passiert ist. Diese Fragen sind doch legitim."
Die größte Herausforderung sei es, die Ausstellung aktuell zu halten. „Es ist immer noch sehr viel im Fluss", sagt Phillips. „Darauf müssen wir reagieren." Tatsächlich finden sich in der Lokalpresse fast jeden Tag Artikel über neue Entwicklungen. Mal geht es darum, ob in den ehemaligen Wohnvierteln autonome Fahrzeuge getestet werden sollen. Ein anderes Mal um die Frage, was mit dem zentralen Kathedralen-Platz passieren soll (abgerissen wurde das stark beschädigte Gotteshaus bis heute nicht). „Das Leben geht weiter", meint der Kurator. „Natürlich sind viele Sehenswürdigkeiten aus Christchurch verschwunden. Aber die wunderschöne Natur, deretwegen die meisten kommen, die bleibt."
Ein Wendepunkt im Leben vieler
Auch innerhalb der Stadtgrenzen erobert sich die Natur ganze Landstriche zurück – zwangsläufig, muss man sagen, denn in der 600 Hektar großen „Red Zone" im Osten der Stadt blieb kein Stein auf dem anderen. Die Schäden in dem einstigen Wohngebiet waren so groß, dass alle 7.350 Häuser abgerissen werden mussten. Seit Jahren diskutiert Christchurch darüber, was in Zukunft aus der Red Zone werden soll: ein Park mit Radwegen und Joggingstrecken? Oder doch lieber alles so lassen, wie es ist? Einig sind sich nur alle, dass in dem fragilen Sumpfgelände nie wieder Menschen wohnen sollen.
Wenn man heute die Red Zone betritt, erinnert kaum etwas an die Vergangenheit. Die Straßen sind für den Autoverkehr gesperrt, für Fußgänger aber nach wie vor zugänglich. Die großen, quadratischen Grundstücke, auf denen einst Häuser standen, werden von der Stadtverwaltung gepflegt. Der Rasen ist umzäunt und gestutzt, wie auf einem Golfplatz. Überall zwitschern Vögel. Allein die größeren Ansammlungen von Rhododendren und Pappeln lassen erahnen, wo einst Gärten existierten. Viel ist nicht los in dieser Idylle: Hier und da führt jemand einen Hund aus; eine Frau läuft mit Einkaufstüten über die verlassenen Straßen. Eine seltsame Stimmung, fast schon gespenstisch.
In den vergangenen Jahren hatten sich die Besucherzahlen in Christchurch wieder erholt. 2018 kamen am Flughafen 558.000 Passagiere an – erstmals mehr als vor dem Erdbeben. Wie sich der jüngste Terroranschlag langfristig auswirken wird, ist noch nicht absehbar. Schon jetzt wurden aber mehrere geplante Großveranstaltungen wie ein Bryan-Adams-Konzert abgesagt.
Roger Evans, der Auswanderer, weiß, dass es hart wird. Nach der letzten großen Katastrophe, dem Erdbeben, hat er seinen Job bei der Stadtverwaltung gekündigt und ein Motel gekauft. In der Lobby hängt ein Foto von Christchurch, aufgenommen wenige Minuten nach dem Beben. „Das musste ich einfach machen", sagt der Hotelier. Für viele Menschen habe das Erdbeben einen Wendepunkt im Leben bedeutet, auch für ihn. Außerdem seien die Gäste eben neugierig. „Ist doch ganz normal", meint Evans und betrachtet das Bild. „Ich wäre es auch."