Was in einer halb verfallenen Scheune begann, ist 25 Jahre später eines der renommiertesten Klassikfestivals Deutschlands. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern glänzen bis Mitte September mit hochkarätigem Line-up und teilweise ungewöhnlichen Spielorten.
Ein Hahn kräht – sonst Stille. Landidylle pur im Dörfchen Ulrichshusen im Kreis Mecklenburgische Seenplatte, einem der Veranstaltungsorte bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern. Die Morgensonne fällt auf die paar Häuser an der Dorfallee, Bienen summen in den Lindenbäumen, Mohn- und Kornblumen sorgen für Farbtupfer in den Getreidefeldern.
Kaum zu glauben, dass am Abend zuvor rund 1.000 Konzertbegeisterte den Ort bevölkerten, in der Abendsonne zum Renaissance-Schloss schlenderten, sich auf den Festivalauftakt einstimmten. Und Wehrführer Karsten Mallers und seine Kollegen von der Freiwilligen Feuerwehr Zettemin reichlich mit dem Einweisen der vielen Busse und Autos zu tun hatten. Die Aufgabe aber souverän und mit Humor meisterten – schließlich haben auch sie inzwischen einige Festspielausgaben hinter sich.
Zum 25. Mal finden die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern in diesem Jahr statt – und längst sind Veranstalter und die vielen – auch freiwilligen – Helfer und Akteure an den einzelnen Festivalorten ein eingespieltes Team.
„Vor 25 Jahren sah die Situation hier völlig anders aus", erinnert sich Dr. Matthias von Hülsen. Das Schloss sei damals völlig zerstört, die zum Gelände gehörende Scheune in desolatem Zustand gewesen. „In dieser frühen Phase der Sommerfestspiele Mecklenburg-Vorpommern nannte ich den Spielort Ulrichshusen ‚Vision und Chaos‘. Die Veranstaltungsreihe war drei Jahre zuvor ins Leben gerufen worden, sollte Mecklenburg-Vorpommern künstlerisch beleben und unterschiedlichste Orte bespielen. Mit 28 Konzerten waren wir 1990 gestartet, die wurden gut angenommen, aber einen Festival-Mittelpunkt gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht."
Das sollte sich ändern – auch durch die Begegnung des Festspielintendanten in Ulrichshusen mit Helmuth Freiherr von Maltzahn. Die Idee des Visionärs bestand darin, Schloss und Scheune Ulrichshusen wiederaufzubauen und als Festspielorte zu nutzen. „Ich liebte seine Wahnsinnsenergie und dachte mir, es kann nichts Besseres geben, als mit so einem Menschen zusammenzuarbeiten."
Menuhin dirigierte in unsanierter Scheune
Für das Eröffnungskonzert der Festspielscheune 1994 gelang es Matthias von Hülsen, Sir Yehudi Menuhin als Dirigent zu verpflichten. Er kam, dirigierte in der noch unsanierten Scheune und begeisterte. Fast 3.000 Besucher vor Ort, geschätzt eine Million Fernsehzuschauer und Radiohörer lernten über Menuhins Konzert die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern und das bis dahin unbekannte Örtchen Ulrichshusen kennen. „Ich glaube, wir haben eine Rakete gezündet", äußerte sich 1994 der damalige Festspielintendant gegenüber dem Bauherrn von Schloss und Konzertscheune. Gastspiele mit Klassikstars wie Anne-Sophie Mutter, Mstislaw Rostropowitsch, Igor Oistrach, Julia Fischer oder Daniel Hope sorgten dafür, dass die Musikfestspiele überregional immer bekannter wurden. Matthias von Hülsen, der bereits das Schleswig-Holstein Festival mitgründete, gewann weitere Spielstätten in Mecklenburg, erweiterte das Portfolio und profilierte das Festival zu einem nicht mehr wegzudenkenden Kulturereignis in Norddeutschland.
Sechs Jahre übernahm Sebastian Nordmann die Intendanz. Strukturen und Wirtschaftlichkeit festigten sich weiter. Als Nordmann in das Berliner Konzerthaus berufen wurde, kehrte Matthias von Hülsen 2009 zu „seinen Festspielen" zurück und nahm sich den internationalen Geiger Daniel Hope zur Seite. Hope gehörte bereits seit 1997 zu den Preisträgern der Festspiele und wurde 2006 erster Preisträger in Residence. Vor wenigen Tagen begrüßte er als Solist und Dirigent seine Zuhörer als „Festspielfamilie" in Ulrichshusen. Zu Ehren seines Lehrers und Mentors Sir Yehudi Menuhin spielte Daniel Hope mit dem New Century Chamber Orchestra San Francisco ein fulminantes Jubiläumskonzert. Auch vor vielen Stammgästen, die versuchen, keine Festivalausgabe zu verpassen. Beispielsweise Silvia Dombrowski, die sich als erklärten Fan von Daniel Hope bezeichnet. Mehrmals im Jahr besucht sie Hope-Konzerte an den unterschiedlichsten Spielorten in Mecklenburg-Vorpommern, macht Fotos und lässt sich diese vom Künstler signieren. Daraus entstehen regelrechte kleine Bildbände.
Längst haben die Festspiele ihren festen Platz im Klassik-Kalender, verständlich, dass die Konzerte stark nachgefragt sind. Die Veranstalter reagieren, in dem sie auch den Kreis der Spielstätten erweitern, die Zahl der Veranstaltungen erhöhen. So stehen bei der diesjährigen Ausgabe bis Mitte September 152 Konzerte in 83 Spielstätten auf dem Programm. Wie vor 25 Jahren Ulrichshusen werden so immer wieder neue Orte entdeckt.
Zum Beispiel Hasenwinkel. Schon allein mit dem Namen assoziiert man Ruhe und Entspannung. Das Schloss und der Park sind prädestiniert für Kinder- und Familienfeste, die dort im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Mäck&Pomm" Open Air gefeiert werden. Mit dem Format „Junge Elite" präsentiert sich der internationale Spitzennachwuchs unter anderem in der Kirche von Rosenow. Ein klangvoller, aber bisher weniger bekannter Ortsname. Möglicherweise nur bis zum Auftritt des vielversprechenden jungen Barockensembles Barocco Toutneu. Auch die Preisträgerkonzerte mit Harriet Krijgh (Violoncello), Matthias Schorn (Klarinette), Noa Wildschut (Violine) und Elisabeth Brauß (Klavier) zählen schon jetzt zu den Höhepunkten des Festspielsommers.
Ungewöhnliche Formate von Landpartie bis Fahrradkonzert
Dazu kommen Auftritte internationaler Stars wie Hilary Hahn, Kent Nagano, oder des Dresdner Kreuzchors, aber auch Götz Alsmann und das Stegreif Orchester stehen auf dem diesjährigen Programm.
„Ein ganzes Land wird bis September zur Bühne für Sternstunden und zum Raum für Entdeckungen. Mecklenburg-Vorpommern, das ist auch ein Ort großartiger Musik, faszinierender Künstler und inspirierender Orte", resümiert Intendant Dr. Markus Fein. Seit 2014 setzt er den Erfolgskurs der Festspiele mit immer wieder neuen Ideen fort. Noch weniger bekannte Aufführungsorte, darunter Gutshäuser und Kornspeicher, Kirchen und Scheunen, Schlösser und Parks sowie Fabrikhallen werden bespielt – unter dem Motto „Unerhörte Orte". Dazu gehören beispielsweise ein Paketzentrum in Neustrelitz, eine Straßenbahnwerkstatt und eine Werkhalle des Flugsitzherstellers in Schwerin sowie eine ehemalige Turbinenhalle in Lubmin.
Vor dem Konzert mit dem weltbekannten Jazz-Pianisten Nils Landgreen und seiner roten Posaune können die Konzertbesucher in Lubmin das ehemalige Kernkraftwerk besichtigen. Intendant Dr. Markus Fein möchte die Festivalbesucher mit ungewöhnlichen Formaten herausfordern und begeistern. Erstmals hat er Landpartien in das Sommerfestivalprogramm aufgenommen, eine kombinierte Konzert- und Kulturreise durch Mecklenburg-Vorpommern. Neu ist ebenfalls das Format „2x hören. Zeit zum Hören." Ob Werke von Boulez, Mozart oder Ives, dasselbe Werk wird zweimal hintereinander gespielt, in unterschiedlichen Interpretationen und Situationen. Dadurch sollen die Zuhörer die Werke viel intensiver erleben können. Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern als Ort persönlicher Begegnung, als humane Botschaft zu begreifen, das wünscht sich Intendant Dr. Markus Fein. So passt auch ein Fahrradkonzert allerbestens zu den aktuellen Diskussionen über Klimaneutralität, Möglichkeiten des Energiesparens und neue Mobilitätskonzepte. Das Publikum erradelt sich hierbei unterschiedliche Konzertorte, mal Open Air – mal drinnen, Orte, an denen es unterschiedlichste musikalische Kost gibt. Eine experimentelle Mischung unterschiedlichster Genres schließlich bietet das Detect Festival, ein „junger" Ableger der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern. In Neubrandenburg stehen Ende Juli Klassik, Jazz, Elektrosounds und DJ-Sets auf dem Gelände einer früheren Torpedoversuchsanstalt am Tollensesee auf dem Programm – inklusive zahlreicher Talks und Workshops mit Akteuren aus dem Kulturbetrieb.