In London wird derzeit nach dem Vollstrecker eines wie auch immer gearteten Brexits gesucht. Wer kann, verlässt derweil die wirtschaftlich sinkende britische Insel. Auch der Biochemiker Dietmar Huhn zog nach 22 Jahren schockiert die Konsequenzen, verließ seine Wahlheimat und lebt heute wieder in Berlin.
Herr Huhn, allein die Entscheidung für den Brexit muss doch für Sie ein totaler Schock gewesen sein?
Ja, natürlich war das ein totaler Schock. Aber dieser Austrittsbeschluss kam für mich dann doch nicht ganz unerwartet. Es ist jahrelang unterschwellig von den Europagegnern in Großbritannien auf den Brexit-Beschluss hingearbeitet worden. Das ging 2008 los mit der Finanzmarkt- und Bankenkrise, woran aus britischer Sicht ausschließlich die Europäer schuld waren. Allein meine Formulierung verrät schon: Viele Briten begreifen sich selbst heute noch nicht als Europäer! In der Zeit der Bankenkrise wurde übrigens auch Boris Johnson politisch hochgespült. Und in dieser Zeit wurden in den Medien dann auch alle europäischen Ressentiments bedient. Vor allem „Daily Express" oder „Daily Mail" haben was das Zeug hielt gegen Europa Front gemacht. Wenn etwas irgendwo nicht geklappt hat, dann war die EU schuld. Diese Saat ist mit dem Brexit schließlich aufgegangen.
Was läuft denn da mental bei den Briten schief, dass man auf der Insel glaubt, allein gegen den Rest der Welt agieren zu müssen?
Großbritannien wird bis zum heutigen Tag von gesellschaftlichen Klassen dominiert. Das ist viel extremer als hier in Deutschland, und das britische Klassendenken wäre zum Beispiel in den USA undenkbar. Auf der Insel gibt es eine Oberklasse, das blaue Blut, der Adel. Diese Klasse steht für seine Begriffe über den Dingen und glaubt zu wissen, was gut ist, für das Königreich und vor allem für sich. Dort steht man schon traditionell kritisch gegenüber Festland-Europa. Dann gibt es die Mittelklasse, laut Eigenverständnis sogar nur noch die untere Mittelklasse, die sich vom weiteren Abstieg bedroht fühlt. Da haben sich dann gerade in den letzten zehn Jahren besonders die Ängste forciert, und der Blitzableiter für diese Ängste war dann auch wieder Europa. Das hatte wirklich schizophrene Züge: Da wurde behauptet, die EU hätte eine Bananenpolizei und die würde den Krümmungsgrad der Bananen kontrollieren. Das stand da tatsächlich so in der Zeitung und die Menschen haben das auch wirklich geglaubt.
Aber ist die Geschichte mit der Bananenpolizei nicht britisch skurril?
Nein, das ist auch kein typisch britischer Humor. Das Problem dort auf der Insel ist: Das Wissen um und über Europa ist sehr schwach, es interessiert einfach nicht. Die Briten kennen ihre eigene Geschichte, vor allem die Glanzzeiten als Empire. Diese großartige Zeit ist aber spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig untergegangen, doch so richtig will das offenbar niemand dort realisieren. Man lebt in den Erinnerungen und der Rest von Europa interessiert nicht weiter. Egal, welche Klasse in Großbritannien, man sieht sich als Sonderfall der Geschichte, als etwas ganz besonders Großes und das bis heute.
Theresa May ist längst vom Brexit verschluckt worden, jetzt könnte Boris Johnson neuer Premierminister werden. Der ist ja nicht ganz unumstritten, um es diplomatisch zu formulieren ...
Boris Johnson nicht ganz unumstritten! Das ist der Anti, im Zweifelsfall gegen sich selbst. So wie ich ihn als Bürgermeister von London erlebt habe, ist er im Umgang nicht ganz einfach, aber dafür sehr einfach gestrickt. Denn er weiß immer punktgenau, wo er seinen Vorteil ziehen kann, wo eine Schlagzeile für ihn lauert. Darum ist er auch ein Chamäleon! Vor zehn Jahren war er Pro-Europäer, dann hat sich der Wind gedreht und nun haben wir einen Brexit-Hardliner. Als Londoner Bürgermeister hat Boris Johnson tatsächlich nicht durch eigene Ideen geglänzt, sondern er hat mit Erfolg Ideen von anderen übernommen. Zum Beispiel damals die Mietfahrräder. Die Idee dazu kam nicht vom ihm, sondern von seinem Vorgänger Livingstone. Aber er hat die Idee einfach übernommen, dann entsprechend propagiert, und heute heißen die Mietfahrräder in London „Boris Bikes". Also, Johnson kann sich wirklich gut als Mann aus dem Volk verkaufen. Wenn es sein muss, furzt er an der Tafel. Auf Nachfrage von Reportern, weil ihm einfach danach war. Das Volk von der Straße liebt ihn dafür, er bricht Tabus, sagt frisch und frei heraus, was er denkt, fühlt und lässt seinen Körpergasen freien Lauf.
Eine Art Donald Trump, nur very british?
Könnte man sagen. Sein Motto: Es gibt viel zu tun, warten wir es ab. Die Infrastruktur in London ist dringend sanierungsbedürftig, das Verkehrswesen stammt noch aus Viktorianischer Zeit. Die Untergrundbahn zum Beispiel ist dringend sanierungsbedürftig. Doch das sieht ja niemand. Anstelle dessen wurden die Gelenkbusse aus deutscher Produktion, die prima funktioniert haben, ausgemustert. Anstelle dessen transportieren jetzt Bus-Modelle aus britischer Produktion die Menschen durch London. Die Grundlage für die neuen Busse kommt aus den 40er-Jahren. Zwei Johnson-Aspekte wurden erfüllt: Es sieht jeder und es ging gegen Europa.
Der andere Kandidat, James Hunt, der jetzige Außenminister, ist das auch so ein Polit-Hallodri?
Also, Hunt traue ich noch zu, dass er einen vernünftigen Austritt der Engländer aus der EU hinbekommt. Er ist ein Pragmatiker, der noch einen vernünftigen Vertrag zum Brexit zuwege bringen kann. Aber das Problem ist: Sollte Hunt gewählt werden und auch wirklich einen geordneten Ausstieg anstreben und ernsthaft verhandeln, politisch hängt auch er an dem seidenen Faden der Zustimmung des Unterhauses. Die ganze Situation bezüglich Brexit ist derart verfahren, wie man es in der ältesten Demokratie der Welt nicht für die Möglichkeit halten sollte.
Wie reagieren denn ihr alter Freundeskreis und ihre Familien in Großbritannien? Denen muss das doch alles total peinlich sein, oder?
Bei unseren Treffen frage ich schon gar nicht mehr nach. Die fangen von ganz allein an zu erzählen, und dann merke ich immer: Meinen Leuten ist das Ganze so peinlich wie einem nur etwas unangenehm sein kann. Eine Freundin von mir hat zwei Töchter Anfang 20. Die beiden Mädels wurden als Europäerinnen erzogen und hatten feste Pläne, wo sie auf dem Kontinent überall studieren und welche Städte sie in ihren Semesterferien anhand von Jobs kennenlernen wollen. Die sind jetzt absolut fertig, die hatten Europa als ihre Spielwiese angesehen. Das alles hat sich für die beiden jungen Frauen jetzt erst mal erledigt. Die sind stinksauer. Also das ist meinen Leuten auf der Insel nicht nur peinlich, sondern die sind auch wütend, über ihre eigenen Mitbürger.
Egal ob geordneter oder Chaos-Brexit: Was geht den Europäern verloren?
Die Idee für ein multikulturelles Leben, so wie ich es vor über 20 Jahren kennengelernt habe. Du hast zukünftig als Festland-Europäer nirgendwo mehr solche unglaublichen beruflichen Chancen wie in London. Ohne diese Möglichkeiten wäre ich zum Beispiel nicht da, wo ich heute beruflich bin. Umgekehrt, wie gerade erzählt, wird da vermutlich mehreren Generationen auf der britischen Insel die europäische Zukunft verbaut. Eine Zukunft, die wir längst für alle erreicht hatten, die wir als unverrückbar gegeben angenommen haben. Das alles stimmt mich zum einen sehr traurig, macht mich aber auch sehr wütend.