Die Sozialdemokraten verlieren eine Wahl nach der anderen, gleichzeitig erreicht die AfD im Osten Rekord-Umfragewerte. Gibt es Rezepte, wie die Genossen wieder aus dem Tief herauskommen? Erste Rufe nach einer Kehrtwende in der Migrations- und Flüchtlingspolitik werden laut.
Ein Flüchtlingsschiff einer deutschen Hilfsorganisation landet nach dreiwöchigem Streit mit den Behörden im Hafen Empedocle auf Sizilien. An Bord befinden sich 37 aus dem Wasser gerettete Migranten aus Afrika. Die italienischen Behörden verhaften den Kapitän und den Leiter der Hilfsorganisation, der das Schiff gehört. Ihr Vorwurf lautet: Unterstützung illegaler Einwanderung.
Der Fall sorgte im Jahr 2004 für großes internationales Aufsehen – ähnlich wie das Déjà-vu fast 15 Jahre später. Nun steht eine Kapitänin im Zentrum der Aufmerksamkeit, die ein Schiff mit 40 Migranten in den Hafen von Lampedusa gesteuert hat. Ansonsten sind die Parallelen zwischen den Geschehnissen um die „Sea Watch 3" unter dem Kommando der jungen Carola Rackete und dem älteren Fall der „Cap Anamur II" erstaunlich.
Fester moralischer Kompass – zu fest?
Komplett anders aber die mediale und politische Reaktion auf die beiden Rettungsaktionen. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Sozialdemokraten. Heute beeilen sich die höchsten Repräsentanten der Partei mit Sympathiebekundungen für die Kapitänin Rackete. Außenminister Heiko Maaß (SPD) kommentierte sofort nach ihrer vorläufigen Verhaftung: „Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden" und drohte: „Alles, was am Ende nicht zu einer Freilassung führt, würde erhebliche Irritationen hervorrufen. Menschenleben zu retten, das kann kein Verbrechen sein." Fast wortgleich drückte es der amtshöchste deutsche Sozialdemokrat, Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, aus. Seine Forderung an Italien: „Italien ist inmitten der Europäischen Union, ist Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht."
Vor 15 Jahren hingegen stellte sich der damalige SPD-Innenminister Otto Schily noch klar auf die Seite der italienischen Behörden: Wenn sich herausstelle, dass Besatzungsmitglieder der Cap Anamur an Schleusungen beteiligt gewesen seien, sei dies „ein schwerwiegender Sachverhalt, mit dem sich möglicherweise auch die deutschen Strafverfolgungsbehörden befassen müssen". Die Hilfsorganisation könne sich nicht eigenmächtig zur Annahmestelle für Asylsuchende erklären. Aus der SPD-Bundestagsfraktion hieß es damals von prominenter Seite: „Das ist wieder einmal bei Cap Anamur die Mischung aus barmherzigem Samaritertum und Scharlatanerie." Man vermutete eine „kalkulierte Suche nach Publizität", damals eine häufig gehörte Kritik am Cap Anamur-Chef Elias Bierdel. Selbst sein Vorgänger, Cap Anamur-Gründer Rupert Neudeck, ging damals auf Distanz.
Solche Sätze wären heute aus den Reihen der SPD undenkbar. Kaum zu glauben, dass das die gleiche Partei ist. Die Zeiten haben sich gewandelt, das Thema Flüchtlinge ist zu einem großen Dauerthema geworden, das die deutsche Gesellschaft stark verändert hat. Zwar hat sich auch die Haltung in der CDU/CSU gewandelt – aber es scheint, dass es dabei mehr um das nachträgliche Rechtfertigen einer Regierungshandlung geht, die die Kanzlerin im Jahr 2015 recht einsam getroffen hat.
Bei der SPD hat sich in 15 Jahren die Parteiposition jedoch offensichtlich komplett gedreht. Die Sozialdemokraten haben heute in der Migrations- und Flüchtlingsfrage eine moralisch sehr eindeutige Haltung. Das ist angesichts der Veränderung der öffentlichen Debatte durch die sozialen Medien vollkommen verständlich. Vor Fotos von Ertrunkenen lässt sich schwer abwägend argumentieren, es gibt kaum noch Platz für Ambivalenz.
Die politische Debatte und die Formen der Auseinandersetzung haben sich im Zeitalter der medialen Massenmobilisierung komplett gewandelt. Bilder und Kurzkommentare von Tausenden beherrschen die öffentliche Debatte. Dem können sich die großen traditionellen Parteien nicht entziehen, und sie kommen damit allgemein nur schlecht zurecht. Die CDU hat das am sogenannten Rezo-Video erleben müssen. Bei den Sozialdemokraten scheint die Krise noch tiefer zu gehen. Sie betrifft zentrale politische und moralische Positionen.
Die SPD ist als Partei damit wohl das erste große Opfer der Emotionalisierung der öffentlichen Debatte. Sie ist dem allgemeinen Trend erlegen, dass Fragen, die früher für schwierig gehalten wurden, heute einfach und klar beantwortet werden.
Die Angst vorm Shitstorm verhindert wirkliche Debatten
Man muss nur wenige Jahre zurückgehen in der Geschichte der Sozialdemokraten, dann trifft man mit Helmut Schmidt auf einen, der das „Härte zeigen" vertreten hat, wie kaum ein anderer Genosse. Unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus zur Zeit des „Deutschen Herbstes" Ende der 70er-Jahre hatte Schmidt jene Härte gezeigt und auf den ersten Blick das Leben von Geiseln riskiert. Immer wieder rechtfertigte der auch philosophisch ambitionierte Hamburger das später damit, dass er „Verantwortungsethiker" sei und kein „Gesinnungsethiker" – eine berühmte und damals noch allgegenwärtige Unterscheidung des Soziologen Max Weber. Auf den Punkt gebracht meint das so viel wie: Es bringt nichts Gutes, wenn man sich von moralischen Emotionen mitreißen lässt, die gut klingen, aber am Ende mehr Schaden oder Leid verursachen. Der Politiker muss „kalt" entscheiden, manchmal auch Härte zeigen und das Langfristige gegen das Kurzfristige abwägen. Ob ein solches Dilemma immer existiert, ist dabei eine ganz andere Frage.
Eine solche Position der Distanz, der „Kälte", ist im heutigen bildlich-medialen Zeitalter immer schwerer zu vermitteln. Wenn die kollektive Erregung erst einmal hochkocht, halten sich abwägende Politiker besser zurück, wenn sie nicht unter die Räder einer neuen Debattenkultur kommen und im Shitstorm untergehen wollen. Das Risiko, von einer Welle moralischer Empörung weggespült zu werden, will unter den heutigen Sozialdemokraten verständlicherweise keiner mehr eingehen. Das kann man als persönliche Schwäche der Politiker als Menschen bezeichnen, es ist aber auch ein allgemeiner Trend. Damit sind die Sozialdemokraten nicht allein, aber sie scheinen in besonderem Maße davon betroffen zu sein.
Der Wandel der Partei in der Migrationsfrage folgt gesellschaftlichen Trends, die die SPD nicht erfunden hat. Wenn es in der Öffentlichkeit kein Verständnis für komplizierte moralische Fragen gibt, wird auch eine interne Debatte schwierig. Wer würde heute noch moralisch angreifbare Argumente anführen wie jenes, dass Abschreckung tatsächlich die Zahl der Migranten senken kann, die über das Mittelmeer kommen und ihr Leben riskieren? Mit einer solchen moralischen Ambivalenz umzugehen, wenn man nicht leichtfertig dabei verfährt, ist nie einfach gewesen. Heute ist es aber offenbar schwerer denn je. Jedenfalls bei der SPD.
Allerdings ist die Krise der Sozialdemokratie so dramatisch, dass nicht ausgeschlossen ist, dass sich hier plötzlich wieder etwas Neues auftut. So hat die gerade mal 41-jährige Sozialdemokratin Mette Frederiksen im Juni die Parlamentswahlen in Dänemark gewonnen mit einem klar migrationskritischen Programm. Die rechtspopulistische Dänische Volkspartei hat dagegen deutlich Federn lassen müssen. Der erstaunliche Erfolg der neuen Ministerpräsidentin wurde über die Grenzen des kleinen Landes hinaus durchaus bemerkt. Für manche ist es ein Signal. So empfiehlt der Ex-SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel die „dänischen Sozis" seinen eigenen Genossen ausdrücklich als Vorbild. Ihr Erfolg werfe „unbequeme Fragen auf, denen sich die SPD seit Jahren konsequent verweigert" – Jahre allerdings, in denen Gabriel selbst ihr Chef war.