Auch „janz weit draußen" hat die Hauptstadt viel zu bieten. Es lohnt sich, Ku’damm und Fernsehturm mal den Rücken zu kehren und abseits des Zentrums auf Entdeckungstour zu gehen.
Im Sommer, wenn es zwischen Alexanderplatz und Zoo so richtig voll und eng wird, ist die Zeit gekommen, die Stadt „von heute und gestern" endlich auch mal von anderen Seiten kennenzulernen. Man kann dem Trubel entfliehen, mit U- und S-Bahn über ein paar Stationen in die Vorstädte zwischen Seen und Wäldern gelangen. Zum Beispiel in die grüne Idylle mit Ostcharme, Pankow im Nordosten.
Jeder kennt Udo Lindenbergs ‚Sonderzug nach Pankow‘ – aber wer fährt schon hin? Seinen Namen verdankt der Stadtteil dem Flüsschen Panke, zu DDR-Zeiten das begehrteste Wohnviertel, in dem sich hochrangige Politiker, Schriftsteller und Diplomaten einnisteten. Er war für die DDR, was Bad Godesberg für Westdeutschland war.
Im Schloss Schönhausen bezog DDR-Präsident Wilhelm Pieck seine Arbeitsräume – Metapher für SED-Herrschaft. Nach Umbau zum Gästehaus logierten hier Gäste wie Leonid Breschnew, Fidel Castro und Michail Gorbatschow. Im 18. Jahrhundert war das Barockschloss Residenz der preußischen Königin Elisabeth Christine, Gemahlin Friedrichs des Großen. Clever wie er war, diente er ihr Schönhausen mit den Worten „da kannse schön hausen" an, während er selbst weit entfernt in Potsdam, in seinem Schloss Sanssouci, mit Lust und Genuss „hauste", mit den Mächtigen der Welt parlierte und zum Flötenkonzert einlud.
Wiesen, Wälder und Seen in Köpenick
Dass der Majakowskiring noch vor 30 Jahren die beste Adresse in Berlin-Ost war, mag heute kaum glauben, wer über seine holprigen Gehwege spaziert. Sicher: Hellgrün, beige, blau strahlen die Jugendstilfassaden. Hinter gusseisernen Zäunen ranken glutrote Rosen. Herrschaftliche Wohnhäuser aus der Gründerzeit thronen mächtig zwischen alten Bäumen. Auch die 60er-Jahre-Villen, die hinter Blütenbüschen hervorlugen, sind recht ansehnlich. Trotzdem wirkt das Viertel nicht wie geleckt. „Mir gefällt es gerade, dass das hier etwas Unfertiges hat. Die krummen Straßen, die verwilderten Gärten, die alten Laternen, die alten Linden", konstatiert Schauspielerin und Sängerin Jasmin Tabatabai. Für sie Gründe genug, nach Pankow ins Grüne gezogen zu sein, „aber nicht zu weit weg von den Bars in Mitte". Dass hier einst die DDR-Polit-Crème lebte, davon ist wenig zu spüren – und genau das macht Pankow so liebenswert: das Viertel ist bescheiden geblieben. Obwohl es alles hat, was das Leben heimelig und die Lage normalerweise teuer macht: ein Schloss, einen Bürgerpark, unter dessen Pergolas die Liebespaare flanieren. Kleine, feine Restaurants, die ihre Gäste wie Freunde begrüßen und wo sich der Wirt zur letzten Runde gern mit dazusetzt. Kiez-Kinos, die die großen alten Filme zeigen. Und die vielen alten Villen, die die Passanten zum Träumen einladen: Ach, wie schön wär’s, hier so idyllisch zu leben, und nur eine Viertelstunde von Reichstag und Großstadtwahnsinn entfernt – einmalig auf der Welt.
Köpenick tief im Südosten ist fast nur grün und blau: Drei Viertel der Fläche sind Wiesen, Wälder und Seen. Dass der Außenbezirk zu Berlin gehört, merkt man oft nur am Straßenbahn-Anschluss. In der Altstadt mit historischen Fassaden und Kopfsteinpflaster scheint die Zeit stehen geblieben. Der Hauptstadtrummel scheint weit, weit weg zu sein.
Die Uniformknöpfe blank poliert, die Pickelhaube tief in die Stirn gedrückt: Jürgen Hilbrecht würde mit Sicherheit sehr schräge Blicke ernten, beträte er in seinem Aufzug als Hauptmann von Köpenick eine normale Kneipe. Wir treffen ihn vor dem Rathaus neben der metallenen Statue des Hochstaplers Voigt. Während seiner Führung zeigt er den Tresorraum, aus dem der historische „Hauptmann" vor mehr als 100 Jahren die Stadtkasse klaute. Seit über 20 Jahren spielt Hilbrecht hier die Rolle seines Lebens, die des armen Schusters Wilhelm Voigt, der sich mit einer echten Uniform vom Trödler als Hauptmann der Preußischen Garde ausgab und die gefüllte Stadtkasse „konfiszierte". Die Leute sind verrückt nach allem, was mit dem Hauptmann zu tun hat – er ist das beliebteste Schlitzohr Berlins. Diese inszenierte Stadtgeschichte lockt mehr Touristen nach Köpenick als die herrliche Wiesen-, Wald- und Seenlandschaft. Eine Bootspartie auf Berlins größtem See, dem Müggelsee, sollte man trotz aller Nostalgie auf keinen Fall versäumen.
Bootspartie auf dem Müggelsee
Köpenick scheint unter dem Plätschern seiner Seen und dem Rauschen der Wipfel in einen 100-jährigen Schlaf gefallen. Windschiefe Häuschen schmiegen sich an das neugotische Backstein-Rathaus, das mit Wappensaal und Heldenbildern die deutsche Sagenwelt heraufbeschwört. Gegenüber, am Luisenhain, nehmen die Ausflugsdampfer ihre Passagiere an Bord. Vom Schiff aus hat man einen herrlichen Blick auf das Köpenicker Barockschloss auf der Dahme-Halbinsel. Die Dahme bildet „eine große Anzahl prächtiger Seeflächen, die durch einen dünnen Wasserfaden verbunden sind", wusste schon der Brandenburger Heimatdichter Theodor Fontane. Lauschig auch der Schlossgarten, eine 350 Jahre alte Flatterulme raunt im Vergehen der Zeit.
Auf dem anderen Ufer der Dahme liegt der Fischerkiez auf einer uralten Siedlungsstätte. Erstmals erwähnt wurden Fischerhütten im Jahr 1355. Wenn man heute durch die Gässchen des Viertels spaziert, dann sollte man das à la Köpenick tun: ganz gemächlich.
Spandauer sind bitteschön keine Berliner, darauf legen sie Wert. Der Stachel sitzt tief: 40 Jahre lang wurden sie als Provinz Westberlins belächelt – als Ausflugsort für Berliner, die ein bisschen Kleinstadtflair erleben wollten. Tatsächlich erkennt man in den Sträßchen um den Marktplatz Reste eines bescheidenen Fischerdorfs. Süß und verpennt, das gefällt.
Nach der Wiedervereinigung wollte man mit aller Macht dieses Image loswerden – schließlich hatte Berlin auf einmal Umland. Um sich von der neuen Konkurrenz abzuheben, wurde Spandaus Altstadt schön alt saniert, bis sie kaum noch alt zu nennen war.
Künstler arbeiten in den Kammern der Zitadelle
Das Städtchen, das erst 1920 nach Großberlin eingemeindet wurde, besinnt sich heute auf seine lange Geschichte. Denn am Zusammenfluss von Havel und Spree siedelten bereits im sechsten Jahrhundert slawische Stämme, eine erste befestigte Burganlage datiert ins zehnte Jahrhundert. Diese Zahlen geben die Spandauer sehr gern zum Besten: Berlin wurde nämlich erst anno 1237 gegründet, da hatte Spandau längst 300 Jahre Geschichte auf dem Buckel und genoss bereits Stadtrecht – auf dieses Erstgeburtsrecht sind sie noch heute stolz. Eben: „Berlin bei Spandau" und nicht umgekehrt. Spandaus Wahrzeichen ist vor allem eins – richtig groß. Bei einem flüchtigen Blick auf den Stadtplan sieht es fast so aus, als sei die Zitadelle mit dem Juliusturm nördlich der Altstadt eine natürliche Insel in der Havel. Nur die zackige Sternenform der grünen Festung lässt die strenge Hand eines italienischen Baumeisters ahnen. Ende des 16. Jahrhunderts kam Francesco Chiaramella de Gandino nach Spandau. 16 Jahre sollte es dauern, dann war das Renaissance-Gemäuer fertig. Spandau wurde Garnison, die Zitadelle 1813 Schauplatz des Sieges der Preußen über die Franzosen.
Heute ist es ein Hort friedlichen Miteinanders, das in Berlin seinesgleichen sucht. In den Gewölben, Kammern und Türmen gravieren Künstlerinnen Glas, pinseln Maler ihre Aquarelle. Andere färben Wolle, behauen Skulpturen, spielen Theater, kuratieren beachtete Kunstausstellungen. Bei gutem Wetter trifft man die kreativen Zitadellen-Nutzer unter den Bäumen im Hof, oder es wird mal wieder konzertant – Konzerte unter freiem Himmel ziehen zu jeder Zeit die Berliner in „ihr" Spandau. Ausnahmezustand herrscht zur Adventszeit, wenn die Weihnachtsstände die gesamte Altstadt „in Beschlag" nehmen, würziger Punsch und das „kühle Blonde" direkt ins Glas fließen.